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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


und nun die Sonne selbst noch einmal wie zum Abschiede in ihrer vollen Schönheit hervortrat. Der Horizont hob sich zusehends. Die Erde erschien tief ausgehöhlt, und wir schwebten inmitten einer großen Hohlkugel, deren gewaltige Wölbung halb in der Erde, halb durch den Himmel ihren erhabenen Abschluß fand. Die untergehende Sonne warf reiche Goldströme auf die unter uns laufenden Nebelmassen und ließ ihre letzten Strahlen mit röthlichem Schimmer auf den zarten Wolkenbildungen zu unseren Häuptern weilen, so daß der ganze Himmel wie von einem Purpurschleier umflossen schien. Aber weihevoller und erhebender noch wurde der Anblick dieser majestätischen Natur durch ihr erhabenes Schweigen. Kein Laut mehr drang von der Erde zu uns herauf, und eine feierliche Stille umgab uns inmitten des blauen Aethers. Gleich jenem Schäfer in Uhland’s „Sonntagsliede“ ward unsere Seele unwillkürlich von dem Gefühle der Andacht erfüllt. Es war der schönste und erhabenste Augenblick meines Lebens.

Allein bereits erinnerte uns das Sinken des Ballons, daß die Erde ihre entflohenen Söhne wieder anzog; das Gesetz der Schwere übte seine Herrschaft wieder aus und zwang uns, die Region der Träume zu verlassen und zum alten Gehorsam zurückzukehren. Der Ballon stand senkrecht über den „Blänken“, einem etwa zweihundert Morgen großen flachen Gewässer. „Nous descendons“ (Wir sinken) sagte Sivel und wies mit verlegener Miene auf die unter uns befindliche Wasserfläche. Er hatte Recht. Ein Blick auf das Barometer überzeugte mich, daß wir schon in starkem Sinken begriffen waren. Die Instrumente wurden in Sicherheit gebracht. Plötzlich vernahmen wir über uns ein seltsames Krachen, das in der Höhlung des Ballons einen starken und eigenthümlichen Wiederhall fand. Unsere Augen richteten sich nach oben, ohne jedoch die Ursache jener merkwürdigen Erscheinung zu entdecken; aber bald verkündete uns die schnelle Niederfahrt, daß der Ballon einen Riß bekommen hatte und das Gas mit großer Heftigkeit ausströmte.

Unsere Lage begann eine bedenkliche zu werden, denn ohne Anker und Ballast aufgestiegen, besaßen wir kein Mittel, um den verhängnißvollen Sturz nach unten zu hemmen. Wir waren machtlos dem Gesetze der Schwere verfallen. Ich fühlte den gewaltigen Luftdruck auf Augen und Ohren und warf mich auf den Boden der Gondel nieder. „Levez-vous! Levez-vous!“ (Richten Sie sich auf!) rief Sivel und ergriff mich beim Arme. Schnell sprang ich auf, denn auch mir war jetzt klar, daß unter diesen Umständen nichts gefährlicher und unsicherer sein konnte, als sich im Augenblicke der Landung niederzulegen; vielmehr galt es, die ganze Elasticität des Körpers und Geistes aufrecht zu erhalten, um auf alle Vorkommnisse gerüstet zu sein.

In weniger Zeit, als ich brauche, um es niederzuschreiben, hatten wir in fast senkrechter Richtung eine Wegstrecke von dreitausend Fuß durcheilt, und als der Ballon bis auf viertausend Fuß herabgekommen war, trieb ihn die untere Luftströmung über die „Blänken“ hinweg in die Richtung auf eine Wiese. Mit Windeseile schien dieselbe uns entgegen zu fliegen, und reißend schnell nahmen die Gegenstände an Größe und Ausdehnung zu. Um die Gewalt des Sturzes zu mäßigen, warfen wir den Taubenkäfig über Bord. Die Wirkung war augenblicklich bemerkbar; aber dennoch schlugen wir mit einer Wucht zu Boden, daß wir Beide niedergeworfen wurden. Eben hatten wir uns erhoben und am Rande der heftig schwankenden Gondel festgeklammert, als wir uns wieder fünfzig bis sechszig Fuß hoch in der Luft sahen. Durch das Aufschlagen der Gondel plötzlich um vierhundert Pfund erleichtert, hatte nämlich der Ballon gleichsam frischen Athem geschöpft und war, ehe wir es uns versahen, nochmals emporgeschossen. Aber bald zog ihn die Erde wieder an sich, und wir schlugen zum zweiten Male, jedoch weit weniger heftig, auf. Dies wiederholte sich etwa vier- bis fünfmal, immer schwächer werdend in Höhe und Heftigkeit. Endlich schleifte die Gondel noch einige Schritte nach, und – wir standen. Wie aus Einem Munde fragte Jeder den Andern: „Sind Sie beschädigt?“ Aber merkwürdig, trotz des furchtbaren Falles waren wir Beide unverletzt. Allerdings fühlte ich später beim Gehen einige Schmerzen in der Seite und im rechten Fuße, die sich aber schon am nächsten Tage wieder legten.

Sivel zog mit aller Kraft das Ventil, und ich hörte einen Laut, wie wenn aus einer Maschine der überschüssige Dampf ausströmt. Er bat, mich ja nicht von der Stelle zu rühren, da wir sonst noch einmal vom Winde gefaßt und emporgeschleudert werden könnten.

Schon bei dem Tanzen des Ballons hatte ich in einiger Entfernung einen größern Knaben bemerkt, dem ich nun heranzukommen winkte. Zaghaft und zögernd nahte er sich, als ich ihn aber aufforderte, die Gondel zu fassen und festzuhalten, lief er scheu davon. Auf meine wiederholten Zurufe schien er Vertrauen zu gewinnen und faßte, wenn auch vorsichtig, den Korb an.

Noch schwebte der Ballon hin und her; aber er war gebändigt. Das Gas entströmte mit voller Kraft; noch einige Minuten ohnmächtigen Zuckens, und unser Polarstern sank machtlos zu Boden. Wir verließen die Gondel. Das Erste war, nach der Ursache unseres jähen Falles zu suchen. Sie war bald gefunden. Dicht am Ventil klaffte der Ballon weit auseinander; es war ein Riß von wenigstens acht Fuß Länge, wie mit einem Messer hineingeschnitten. Wie gnädig waren wir noch davon gekommen! Hätte nicht das Netz von außen und der Druck des Gases von innen die gesprengte Hülle zusammengehalten, wir wären unrettbar verloren gewesen.

Rings um uns in weitem Umkreise vernahmen wir jetzt ein immer näher kommendes Rufen von Menschen. In weniger als fünf Minuten waren gegen vierhundert Menschen auf dem Platze, Männer und Frauen, Kinder und Greise; selbst die Behörde war in Gestalt einiger Gensd’armen und Grenzwächter vertreten, welche letztere mit anerkennenswerther Dienstbeflissenheit unsere Gondel nach zollpflichtigen Waaren durchsuchten. Hinter mir entstand plötzlich ein homerisches Gelächter. Ich sah mich um und bemerkte einen Mann, der, von oben bis unten durchnäßt, in Einem Holzschuhe zu uns heranhumpelte.

„Na,“ sagte er, „man still! Ick will mi de Franzosen un ähr Luftmaschin ook mal ansäh’n.“

In seiner Neugierde hatte er sich nicht die Zeit genommen, einen Umweg zu machen, war mitten durch Moorgräben und Sümpfe watend zu uns geeilt und hatte dabei Havarie mit seinen Holzschuhen erlitten.

Inzwischen hatte Sivel unter Beihülfe einiger dienstfertiger Landleute den Ballon vollends entleert, zusammengerollt und in die Gondel verpackt. Bald kam auch der bereits bestellte Wagen herangefahren; ein Dutzend kräftiger Arme hob die sechs Centner schwere Last hinauf, und nunmehr wanderten wir, begleitet von unseren biederen Moorcolonisten, über Haide und Sand nach dem nächsten Orte. Es war ein bescheidenes altniedersächsisches Dorf und hieß Moorhausen. In dem freundlichen Wirthshause warteten unser bereits einige Bekannte; bald fanden sie noch mehrere ein, und in vertraulicher Gesellschaft bei einem Glase Wein wurde der Abend dieses unvergeßlichen Tages beschlossen.

Fr. Ohlendorf.




Verarmt.


Nun hab’ ich Dir, mein liebes Kind,
Dein Sonntagskleidchen angezogen –
Zum letzten Mal! – – Wir Armen sind
Um jedes Glück der Welt betrogen.
Sonst hatt’ ich Salz im Haus und Brod;
Nun sitzt an unserm Tisch die Noth,
Denn ach! der treu für uns geschafft,
Der Vater ist, der gute, todt,
Und schwach ist eines Weibes Kraft.

Kind, meines Lebens süße Lust,
Sie wollen Dich von meiner Brust.
Sie wollen aus der Mutter Hut
Dich reißen – o wie weh das thut!
Ich hab’ gekämpft, so oft sie kamen,
Allein ich weiß, sie meinen’s gut – –
Und so gescheh’s in Gottes Namen!

Nun wird die fremde Frau, die reiche,
Die jüngst begrub ihr einzig Kind,
Dir Mutter sein und freundlich lind
Auf’s Haupt Dir legen ihre weiche,
Vornehme, arbeitfremde Hand.
Die Mutter, die Du einst gekannt,
Du wirst vergessen sie, die bleiche –
Wie leicht reißt doch der Liebe Band!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_782.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)