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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Ein sächsischer Schulmeister im Mormonenlande.


Für den in transatlantischen Ländern reisenden Deutschen ist es von besonderem Interesse und Reiz, das Leben und Streben, Treiben und Ringen unserer Landsleute in der Fremde zu sehen und zu beobachten, wie im Kampf mit fremdartigen Verhältnissen, mit heterogenen Lebensbedingungen, in freiem Spiel der Kräfte einer tüchtigen Persönlichkeit die eigenthümlichen Vorzüge und Schwächen des Stammes, dem das Individuum durch Geburt und Erziehung angehört, erst recht sich herausbilden und markiren. Wenn man nun aber meine speciellen Landsleute, die „Königreich-Sachsen“, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten in den mannigfachsten Lebensstellungen und auf den verschiedensten Niveaus der bunten Erwerbsthätigkeit wiederfindet, welche jene wunderbare amerikanische Welt bald aus dem Rohen im großen Style gestaltet, bald durch den Luxus raffinirter großstädtischer Uebercultur künstlich erzeugt, und sie in solcher Lage beobachtet, so widerspricht dies keineswegs obigen Beobachtungen. Ist doch das Königreich Sachsen selbst mit seiner stammlich gemischten Bevölkerung im hohen Grade ein Mikrokosmos, eine kleine aber ganze Welt, deren geistig und wirthschaftlich reichverzweigtes Leben alle Elemente und Hülfsquellen eines großen Staates im Kleinen wiederspiegelt. Kunst und Wissenschaft, Industrie und Landwirthschaft, Bergbau und Waldwirthschaft finden sich gleichmäßig vertreten und entwickelt in dem Ländchen, das auf seinen zweihundertfünfundsiebenzig Quadratmeilen eine mannigfaltige geographische Gestaltung aufweist und selbst von einer zum Meere führenden Wasserstraße durchzogen wird. Nach mannigfachen Begegnungen mit speciellen Landsleuten, die alle, auf sehr verschiedenen Wegen freilich, dem allgemeinen Ziele des Gelderwerbs zusteuerten, überraschte es mich aber doch in hohem Grade, als ich im Herbst 1872 in der großen Salzseestadt unter den Erziehern des heranwachsenden Mormonengeschlechts, ja als einen der Aeltesten der Mormonenkirche, ein Dresdener Kind, einen ehemaligen Lehrer einer dortigen Volksschule, Herrn M., fand.

Der Weg, welcher diesen Mann vom Katheder jener Schule zum Lehrertisch in der Mormonenschulclasse geführt hat, wo wir ihn zuerst, umgeben von seinen Schülern und Schülerinnen, fanden, ist ein krauser, seltsamer gewesen. Ich will mein merkwürdiges Zusammentreffen mit diesem Mann kurz zu schildern versuchen.

Am Abend des 14. October 1872 war ich mit zwei werthen Landsleuten, Touristen gleich mir, in der großen Salzseestadt angekommen. Wir hatten uns im Townsend-House einquartiert, einem Hôtel, das, geleitet von einem dreifach beweibten Mormonen, in der That in Einrichtung und Verpflegung eine dieser vierfältigen Direction entsprechende Vielseitigkeit der Fürsorge nicht vermissen ließ. Am anderen Morgen suchten wir alsbald einige Herren auf, an welche uns verschiedene Landsleute in schon von uns besuchten Städten der Union behufs Auskunft und Führung adressirt hatten. Allein vergeblich waren unsere Nachfragen. Die Herren waren eben nicht aufzufinden, da sie gestorben oder weiter nach Westen, nach irgend einem unbekannten Bergstädtchen Montanas oder Idahos, gezogen waren. Was nun beginnen? Wir schlenderten durch einige der breiten, wohlchaussirten, von dem bekannten Stadtbach durchströmten und mit freundlichen villenartigen Häusern besetzten Straßen zur schattigen Veranda unseres Gasthauses zurück und ließen uns das Adreßbuch geben. Vielleicht, daß wir auf diesem Wege einen gefälligen Cicerone durch das Rom der Mormonen und mit seiner Hülfe Gelegenheit zu einer Unterredung mit ihrem Papste Brigham Young erlangen könnten. Und siehe da, wir fanden in der That einen deutschen Namen mit dem Beifügen: Professor an der Universität, Aeltester der Mormonenkirche und Schuldirector. Die Salzseestadt, welche mit weit größerem Rechte als Chicago den Namen der Gartenstadt führen könnte, streckt sich weithin in dem Thale, welches die in edlen Formen sich erhebende Kette der Wahsatchberge begrenzt. Die Wohnung unseres Schulmeisters lag so ziemlich am Ende der Stadt. Wir mietheten daher eine Droschke – für drei Dollars die Stunde – und fuhren hinaus, an dem Tempel mit seinem Schildkrötendach und an der Residenz Brigham’s und seiner Weiber vorüber, die noch von der mächtigen Steinmauer umgeben ist, welche früher zum Schutz der bei Indianerangriffen dahin mit Weib und Kind sich flüchtenden Schaar der Heiligen aufgeführt worden ist. Auch an dem berühmten Adlerthor, das sich mit seinem aus Holz geschnitzten Aar gar wunderlich ausnimmt, führte uns unser Weg vorüber und dann auf staubigem, von Fruchtgärten besäumtem Wege weiter, bis der Wagen vor einem länglichen niedrigen Hause hielt.

Ohne Zögern traten wir über ein paar Stufen ein und sahen uns sofort im Schulzimmer; auf den Schulbänken saß eine Schaar meist gesund und blühend aussehender Kinder, Knaben und Mädchen durcheinander, in zwei Abtheilungen, von einem jüngeren und einem älteren Lehrer unterwiesen. Der letztere trat auf uns zu und bezeichnete sich uns als der Gesuchte, ein Mann mittlerer Größe, frischen Aussehens und kräftiger Gesundheit, nicht bebrillt und mit einem wenig schulmeisterlichen Wesen, so daß man ihn eher für einen deutschen Farmer hätte ansehen können. Er reichte uns, nachdem er unser Anliegen vernommen, freundschaftlich die Hand und versprach uns für den Nachmittag seine Führung, indem er uns einlud, seiner Lection beizuwohnen, was wir denn auch thaten. Während nun Herr M. seinen Schülern und Schülerinnen – die natürlich zum großen Theil aus polygamischen Ehen stammten – die beste Methode der Zinsenrechnung, des sogenannten compound interest, wie der technische Ausdruck der amerikanischen Schulterminologie lautet, lehrte, war auf der anderen Seite des ziemlich großen Raumes ein anderer Lehrer bemüht, seiner Schülerabtheilung einen elementaren Theil des stets auf die praktischen Bedürfnisse des Lebens berechneten Schulprogramms beizubringen. Um nicht zu stören, schieden wir bald, mit der Verabredung des Wiedersehens am Nachmittage. Bei aller Achtung vor den Leistungen der Verwaltung Brigham Young’s fiel doch die Parallele zwischen diesem dürftigen, räumlich so beschränken Schulhause und dem am Abend von uns besuchten geräumigen und luxuriös ausgestatteten Theater, dessen Baukosten zum großen Theil aus kirchlichen Mitteln flossen, zu dessen Ungunsten aus.

Unter der Führung des Herrn M., der sich uns in der liebenswürdigsten Weise während der beiden Tage unseres Aufenthaltes in der Salzseestadt widmete, durchstreiften wir die Salzseestadt und ihre nächste Umgebung; wir besuchten vor Allem das alte und das neue Tabernakel, den Tempelbau, der, nach einem Plane des Propheten selbst begonnen, ein großartiges Werk zu werden verspricht, wenn er je vollendet wird, sodann das „naturwissenschaftliche Museum“, ein Sammelsurium à la Barnum im Kleinen, unter dessen hervorragenden Stücken uns unter Anderem eine Ziethenhusarenpatrontasche, die Portraits von Kaiser Wilhelm und seinen Getreuen und das Bild einer Scene aus der Schlacht von Sadowa mit Stolz gezeigt wurden.

Die Merkwürdigkeiten der Salzseestadt sind, wie das Mormonenthum selbst, seine Entstehung und Lehre, zu bekannte Themata der Darlegung und Schilderung, als daß ich es unternehmen möchte, dieselben nach meinen Eindrücken und Erfahrungen wiederzugeben. Auch hier bewährte sich mir die alte Wahrheit, daß das Meiste in der Wirklichkeit doch ganz anders ist, als die aus den verschiedensten Berichten und Meinungen kaleidoskopartig zusammengesetzte Vorstellung uns annehmen ließ. Jedenfalls bleibt mir von allen empfangenen Eindrücken der als mächtigster bestehen, daß die Niederlassung der Heiligen der letzten Tage hier zwischen dem großen Salzsee und den höchst imposanten und herrlichen Wahsatchbergen eine große colonisatorische That ist, die in der Geschichte der Besiedelung des amerikanischen Westens eine bedeutende Stellung einnimmt. Wie man auch über die Mormonenlehre und ihre Auswüchse, die Polygamie, die Gefangenhaltung der Geister, den Zehnten etc. denken mag, in den fünfundzwanzig Jahren, seitdem die ersten Mormonenschaaren von Nauvoo, flüchtend vor einem fanatisirten Mob, hier in dem öden, unfruchtbar scheinenden, nur von Büffeln und ihren weißen und rothhäutigen Verfolgern belebten Thale einzogen und ihre Zeltpfähle steckten, bis heute ist Großes hier vollbracht worden. Das zeigt sich uns, wo wir auch hinschauen. Das vermochte allein die schaffende Kraft unseres Jahrhunderts, der Geist der Association, der hier noch dazu durch eine religiöse Idee getragen wird. In der Bethätigung dieser Gemeinsamkeit auf allen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_794.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)