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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Untersuchungen auch der gesündesten Blüthen und Knospen veranlaßt, möchte ich für höchst wahrscheinlich halten.

Jede Hausfrau, die einen Garten besitzt, kennt die Aergerniß erregenden Thaten des Sperlings an den ausgestreuten Sämereien, wogegen Scheuchen und Klappern nur wenig vermögen. Die pfiffigen Vögel benutzen die Frühstunden, wo es noch still im Haus und Garten ist, und warten den Tag über die günstige Gelegenheit ab, welche von einzelnen dem ganzen nachbarlichen Contingent durch Locktöne gleichsam telegraphisch verkündet wird. Die jungen Erbsenpflänzchen werden mit dem derben Schnabel ausgehoben, wenn ihre Spitzen aus der Erde lugen, und mit der gekeimten Frucht fortgetragen. Die Diebereien werden fortgesetzt, so lange es noch Schoten giebt. Die ausgeflogenen Jungen folgen den Eltern dahin und finden die beste Unterweisung, an die Frucht zu gelangen und die süßeste auszusuchen. Im Nachsommer begeben sich die vereinigten Bruten einer Stadt, eines Dorfes oder auch mehrerer derselben in die reifenden Getreidefelder und plündern gemeinschaftlich die Aehren, vorzüglich in der Nähe der Gärten und Baumpflanzungen. Von ihrem Gewichte beugen sich die Halme, werden teilweise geknickt und zu Boden gedrückt, wo die Körner um so leichter herausgepickt werden können. Wer jemals solche plündernde Schaaren in den Getreidefeldern hat hausen gesehen, der muß den erheblichen Schaden anzuschlagen wissen, den sie dem Landmanne zufügen. Auch die Hanf- und Hirseäcker werden von den Sperlingen heimgesucht und reichlich gezehntet.

Lange vorher, ehe das Getreide, namentlich der Weizen, zur Reife gediehen ist, fallen sie in den Aeckern ein und verzehren die milchigen Früchte. In vielen dergleichen Fällen ist erwiesenermaßen ein Viertel des Körnerergebnisses der geplünderten Grundstücke allein von den Sperlingen verzehrt worden. Selbst den auströpfelnden Saft der Kirschen, Pflaumen, Aprikosen und Zwetschen weiß sich der Sperling anzueignen. Und die Trauben? Wer vermag sie vor dem Sperlinge völlig zu schützen, der heimlich hinter dem Laubschirme seine Mahlzeit hält und so gern auf den Spalieren an Mauerwänden und Häusern schläft? Während er hier einzeln oder nur in kleineren Gesellschaften durch täglich öfters wiederholten Besuch Aergerniß erregt, überzieht er in Massen die Weinberge.

Aber auch in den Gehöften plündert dieser listige Vogel das Getreide auf Fruchtböden und die Sämereien, zu denen er Zugang findet; in Vorratskammern dringt er ein und nimmt, was er haben kann, da er ja Alles frißt, und wer vermag ihm auf allen seinen Diebswegen nachzufolgen, die er schlau und vorsichtig wandelt?

Vergleichen wir nun Nutzen und Schaden miteinander, so liegt das entschiedene Uebergewicht in der Wagschale des letzteren. Hervorzuheben ist indessen, daß das Urteil je nach Gegenden, wo mehr oder weniger Feldwirtschaft, Obstzucht und Weinbau betrieben wird, sich wandelt und die Wage bald nach der einen, bald nach der andern Seite hin schwankt oder auch entschiedener noch zu Gunsten oder Ungunsten spricht. Die Ueberhandnahme der Sperlinge kann ich aus den angeführten Gründen also nicht gutheißen, sondern vielmehr nur eine Niederhaltung des Vermehrungsstandes empfehlen. Der Landmann und Weinbauer muß unbedingt das Recht haben, Vertilgungsmittel gegen die Uebermacht der Sperlinge anzuwenden; ebenso ist es dem Gartenbesitzer zu gestatten, den mit Fleiß und Sorgfalt gezogenen Weinwuchs und seine Obsternte gegen ihre Eingriffe zu schützen. Ich empfehle zu diesem Zwecke mit Dunst (dünne Schrote) geladene Flinten. Wenn die Sperlinge mehrere Cameraden stürzen sehen, so meiden sie sehr bald den Ort, wo ihnen der Schrecken eingejagt wird.

Es handelt sich also darum, daß die Regierung nicht Vertilgungsbefehle giebt, die zu allerlei Grausamkeiten führen, sondern außer der Brutzeit den Fluren-, Garten-, Weinberg- und Obstpflanzungenbesitzern Freiheit der Nothwehr gestattet. Die Tödtung selbst einer großen Menge von Sperlingen wird, wenn auch immerhin bemerkbar, doch keinen bedenklichen Verminderungsstand für das darauffolgende Frühjahr zur Folge haben, denn die Klugheit, mit welcher der Sperling die Gefahr flieht, sichert immer ein hinlängliches Contingent zur Raupenjagd.

In wie weit der Sperling zeitweise verfolgt werden muß, darüber entscheiden so mancherlei Umstände und Verhältnisse, daß ich nach den bereits gemachten Angaben die gesunde Vernunft und beobachtende und erwägende Ueberlegung der Verfolger selbst anrufen muß. Vergessen wir doch nicht, daß der Sperling den Menschen auch wieder durch sein munteres Wesen, sein enges Verhältniß zu ihm und seine treue Hausgenossenschaft vielfach aussöhnt. Er ist und bleibt nun einmal ein aller Welt leidlicher und ergötzlicher Hausgenosse.

Karl Müller. 


Das Bild ohne Gnade.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)

Das Couvert lag in ihrer Hand. Sie blickte das Siegel an, dann drehte sie den Brief langsam herum. Schauer durchrieselte sie vom Kopfe bis zu den Füßen. Plötzlich barg sie das Couvert in den Falten ihres Kleides, wie einen Raub, stand hastig auf und winkte den Männern mit so sprechender Geberde, sie allein zu lassen, daß selbst Mattern, nach einem kurzen Versuche, ihr zuzusprechen, seinem Schwager fast auf dem Fuße folgte.

Thea eilte zur Thür und stieß den Riegel vor. Sie rang die Hände und riß den Brief hervor. Mitten im Zimmer stehend, brach sie das Siegel. Im Couvert lag Robert’s Brief von einem Blatte umschlossen, das Sandor’s Schriftzüge trug:

„Du sagst mir, Geliebte, ich sollte und müßte Dein Bild so schauen, wie es sich in den Augen Derer spiegelt, die Dich früher geliebt. Vielleicht hast Du Recht, vielleicht forderte es die Wahrheit, welche wir einander zugelobt, daß ich Dich wirklich so schauen mußte. Ich sende Dir, ehe wir uns wieder begegnen, das Blatt zurück, welches zu vernichten nur Dein Recht ist. Was Andere darüber denken, daß Du Dich mir zu eigen gegeben, berührt mich nicht, und erpreßt Dir solches Urtheil der Deinigen Thränen, so kann ich sie Dir nur von den Wangen küssen. Dennoch haben die Worte dieses Briefes einen schweren Gedanken in mir zurückgelassen – keinen Vorwurf für Dich, meine Thea, nur eine Sorge um Dich. Wirst Du an meinem Herzen auf die Dauer vergessen, was Dich vorher so tief gefesselt hatte? – Mir ist, als könnte der Geist des Mannes, den auch Du mir hoch gerühmt, dereinst unsichtbar neben Dir an unserem Herde sitzen und sein Recht einfordern – ich habe Dein Auge mitunter seltsam lauschend in sich hineinblicken sehen.

Darum, Geliebte, gebe ich Dich heute vor Dir selbst noch einmal so frei, wie Du mir gegenüber warst, als wir uns begegneten. Diese Zeilen werden Dich früher erreichen als ich. Dein Glück ist mein höchstes Wünschen und Bedürfen, das bedenke! Und wie es auch enden möge, nimm Dank für Das, was Du mir warst und ewig bleibst! Ich habe durch Dich das Höchste kennen gelernt, was die Erde giebt – ich habe grenzenlos geliebt.

In Zeit und Ewigkeit
Dein Stephan.“ 

Thea faltete das Blatt zusammen und nickte ein paarmal vor sich hin. Dann ging sie gelassenen Schrittes, als sei nichts vorgefallen, zu ihrem Schreibtische, erschloß eines der Fächer und legte beide Briefe sorgfältig hinein. Im Begriffe, das Fach zu schließen, fiel ihr ausdrucksloser Blick auf ihre Rechte. Sie zuckte zusammen, betrachtete ihre Hand ein paar Minuten regungslos und streifte dann mechanisch Stephan’s Verlobungsring von dem Finger, den er umschloß, wie ein anderer Ring ihn umschlossen hatte, den sie gleichfalls abgestreift. Sie hob ihn dicht vor ihr Auge, ließ ihn dann leise auf die Briefblätter gleiten und schloß ab.

Im nächsten Augenblicke lag sie bewußtlos am Boden.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_830.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)