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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

ja viele Pfunde schwer sein, um stundenlang ruhig am Boden liegen zu bleiben. Das war ja ein Windtoben, als sollte der ganze Park übereinander zusammenstürzen. Gott weiß, wohin die Tücher geweht worden sind! Könnte man nur auf den Feldern und in den Gräben nach ihnen suchen, würde man sie schon finden.“

Dieser mit dem Anstrich von Ueberzeugung gethane Ausspruch Frau Mariannens beruhigte Doris’ Angst, wenn auch nicht ganz, so doch zum größten Theile. Der heiße, starke Kaffee, welchen die Castellanin, die ihre beiden Mägde, Martha und Lene, zum Einkauf von Lebensmitteln auf den Mark geschickt hatte, selbst für das Fräulein bereitete, schien dessen übernächtiges Wesen ganz zu beseitigen. Doris wurde gesprächiger, und als Nehemia Drill nach höchst manierlichem Anklopfen eintrat, der Ansicht Frau Mariannens bezüglich des Verwehtwordenseins beistimmte und bedauernd äußerte, daß eine Suche auf den Feldern unter jetzigen Umständen leider nicht thunlich sei, wuchs auch ihr der Muth wieder und sie äußerte:

„Welchen Einbildungen man sich doch gleich hingiebt, wenn man in Angst ist! Willi würde vielleicht lachen, wenn er wüßte, daß ich mich seinetwegen so geängstigt habe. Er ist wirklich ein Tollkopf.“

Herr Nehemia fragte dann, um nach seiner Idee etwas zur Erheiterung beizutragen: „Haben Sie, gnädiges Fräulein, heute schon die Berliner Amsel pfeifen hören?“

„Eine Amsel? In jetziger Jahreszeit? Ich verstehe Ihn nicht.“

„Ich meine den König da drüben,“ lachte Nehemia mit der Hand die Richtung nach dem Palais andeutend. „Schade, daß der Judenkönig David mit seiner Harfe nicht mehr zu haben ist! Die Beiden könnten ein hübsches Geschäft auf den Jahrmärkten machen.“

Jedenfalls glaubte der treffliche Heiduck diese Leuchtkugel seines Witzes durch ein ihm schmeichelhaftes Lachen belohnt zu sehen, indeß zu seinem Schrecken stellte sich ein durchaus anderes Resultat heraus. Die Frau Castellanin zeigte ein sehr finsteres Gesicht, erhob sich dann von ihrem Sitze und sprach mit merkbar ärgerlichem Tone:

„Herr Nehemia, ich hätte nicht geglaubt, je Ursache zu haben, Ihn auf den schuldigen Respect gegen höher gestellte Personen aufmerksam machen zu müssen. Ich bin weit entfernt davon, den Einbruch des Königs von Preußen in unser Sachsenland für eine gerechtfertigte That zu halten, aber ebenso weit entfernt bin ich davon, eine königliche Majestät, und wäre ich ihr noch so feind, in meinem Beisein zum Gegenstand eines ordinären Spaßes machen zu lassen. Die Bezeichnung ‚Berliner Amsel‘ behalte er in’s Künftige bei sich, Herr Nehemia! Ich bin nicht lüstern danach, dergleichen wieder zu hören, zumal es noch gar nicht einmal erwiesen, ob nicht ein Anderer, ein Künstler ersten Ranges, den er bei sich hat, dieser Flautusenbläser ist, und es wäre eine himmelschreiende Versündigung an einem solchen Virtuos, sollte seiner großen Kunst, die ein König hoch zu ehren weiß, auf so gemeine Weise gespottet werden.“

Nach diesem sehr ernsten Verweis, welcher dem würdigen Heiducken eine tiefdunkle Schamröthe in’s Gesicht trieb, ließ sich die Frau Castellanin wieder auf ihren Sitz nieder. Der Nimbus eines großen Triumphes schien sich in ihrem von dem blüthenweißen Spitzengewebe ihrer kunstvollen Dormeuse ziemlich umrahmten Gesicht wiederzuspiegeln. Sie hatte ritterlich den noch sehr unsicheren Gegenstand ihrer Neigung vertheidigt und war zufrieden mit sich selbst. Eine längere Pause folgte. Nur der rastlos hinundhergehende Perpendikel der großen Uhr im nußbaumenen Gehäuse ließ sich mit seinem Ticktack vernehmen. Als hätte ein kältender Luftstrom die Stube durchweht, so stockte die Unterhaltung der anwesenden Personen wie von einem Frostschauer angehaucht; indeß dieses Schweigen, welches etwas Beängstigendes hatte, erfuhr eine höchst unerwartete Veränderung.

Im Hausflur draußen machte sich Martha’s Stimme in ganz besonderen Klagen laut, wie: „Ach, mein Gott! mein lieber himmlischer Vater, was soll daraus werden! Wir gehen Alle zu Grunde … das ist unser jüngstes Gericht! Nun kommt das gewaltige Thier mit den sieben Häutptern und zehn Hörnern, von dem Johannis Offenbarung verkündet, über uns … wir sind Alle verloren, Alle.“

„Die Person ist wohl verrückt geworden?“ äußerte die Frau Castellanin. „Sehe Er doch nach, Herr Nehemia, was sie …“

Ehe Frau Marianne noch zum Ausreden kam, wurde die Thür von außen aufgerissen, und Martha stürzte mit solcher Eile herein, daß sie den stammhaften Heiducken, der eben an die Thüre treten wollte, ein tüchtiges Stück breit zur Seite stieß.

„Aber Martha, ist Sie denn ganz verdreht im Kopfe?“ rief ihr die Castellanin zu. „Was ist denn das für ein Benehmen?“

„Ach, Benehmen hin, Benehmen her, Frau … ’s nützt uns Alles nichts, und wenn wir in weißen Feierkleidern, wie die lieben Engelein im Himmel, erscheinen, wir sind doch Alle hin … Alle … Alle, ohne Erbarmen.“

„Ich verlange, daß Sie als vernünftige Person spricht. Wer soll aus Ihrer Jeremiade klug werden?“ redete die Castellanin sehr ernst. „Ihr unsinniges Gebahren muß doch einen Grund haben.“

„Den hat’s, den hat’s … und was für einen! einen solchen, daß mich und die Lene bald der Schlag getroffen hätte,“ entgegnete Martha. „Wir kommen vom Markte nach Hause mit unsern vollen Körben. Es ist ’was ganz Abscheuliches, daß, um durch’s Gatterthor zu gehen, man bei den großen blaurothen Kerlen, die da Schildwache stehen, vorbei muß. Was die Sorte von Menschen für dumme Bemerkungen macht und wie sie Einen anstieren! ’s ist Gott zu klagen! Wir sind auf dem Wege um’s Palais nach hier, auf einmal ruft die hinter mir hergehende Lene: ‚Martha! Martha! gucke 'mal nach rechts. Ist denn das …‘ Ich gucke nach rechts und denke, ich soll gleich in Gottes Erdboden hinein versinken. Zwischen vier Mann Soldaten, neben denen ein Corporal hergeht, erblicke ich … unsern Junker Willi.“

Aus Doris’ Munde drang ein Aufschrei des Schreckens. Sie fiel, von der entsetzlichen Nachricht wie von einem Blitzstrahl betäubt, an die Kanapeelehne zurück. Die Frau Castellanin saß mit offenem Munde wie ein unbewegliches Wachsbild … das hatte sie nicht erwartet. Herr Nehemia Drill stand an der Wand, ganz unbewußt seines Thuns, wie es schien, die beiden nadelspitzgleichen Enden seines schön gewichsten Schnauzers zwischen den Fingern haltend, als hätte er diese Zierde seines gut genährten Gesichtes eben noch spitzer zu drehen beabsichtigt und sei durch einen ihn plötzlich lähmenden Zauber in Stein verwandelt worden.

„Na, da sehen es doch die Herrschaften, daß man nicht erst an’s Benehmen denken kann, wenn man solch einen Heidenschreck erfährt,“ sagte Martha. „Mir wird der lange anhängen. Wenn unser Eine auch nur eine Magd ist; aber ein Herz hat man doch.“ Mit dieser sehr energischen Bemerkung verließ die Erzürnte die Stube, in der ein tiefes Schweigen herrschte, welches indeß bald in einer Weise aufgehoben wurde, die für die Betheiligten keineswegs zu den freudigen Ereignissen zählte, denn draußen im Flur wurden schallende Männertritte, auf den Steinplatten das Klirren von niedergesetzten Gewehrkolben hörbar, und um keinen Zweifel über die Bedeutung dieses verdächtigen Geräusches aufkommen zu lassen, fragte eine rauhe Männerstimme: „Heda, Weibsbild, wer wohnt in der Bude hier?“

„Das gnädige Fräulein von Liebenau, die Frau Castellanin, der Herr Heiduck Nehemia Drill und ich und die Lene,“ hörte man Martha antworten. „Was will denn der Herr Corporal von ihnen?“

„Geht Sie nichts an. Packe Sie sich.“

Nach dieser sehr groben Entgegnung auf die vernehmlich angstvolle Frage Martha’s klopfte der Corporal an die ihm zunächst befindliche Thür, daß es klang, als wolle er einen Trommelwirbel mit einem pfündigen Hammer versuchen, obwohl es nur der Kniebel seines gebogenen Mittelfingers war, der den durchdringenden Ton hervorrief. Auf ein schwaches „Herein!“ trat er, sich bückend, in die Stube; seine Mannschaft blieb außen, und Martha, an allen Gliedern zitternd, stand hinter der Säule der zum Dachgeschoß führenden Wendeltreppe.

Nach einer Weile traten die in der Stube anwesenden Personen in Begleitung des Corporals in den Flur heraus; die Soldaten nahmen sie in die Mitte, und langsamen Schrittes verließen sie das kleine Haus. Doris hing wie eine geknickte Lilie am Arme Frau Mariannens, und ihnen nach folgte Herr Nehemia, dessen gedrungene große Figur mit dem traurig auf die breite Brust geneigten Kopfe viel Aehnlichkeit mit einem gestutzten Weidenbaum hatte. Dieser Anblick der Vergewaltigung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_836.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)