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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Doch erschien Goethe, nach Weimar zurückgekehrt, wohlauf und munter. Zu Ende Septembers erfreute er sich eines gleichzeitigen Besuches von Fritz Jakobi und Claudius, dem „Wandsbecker Boten“, dem seine vielen späteren Querköpfigkeiten und Pietisteleien um seines Rheinweinliedes und seines Mondliedes wegen verziehen sein mögen. Die Dissonanzen, welche aus unseres Dichters äußerer Stellung in sein inneres Dasein häufig herüberklangen, mochten sich auch in jenen Herbsttagen wieder hörbar gemacht haben. Denn Jakobi schrieb am 11. Oktober an die Fürstin Gallitzin, Goethe habe zu ihm gesagt: „Ich weiß wohl, daß man, um die déhors zu salviren, die dédans zu Grunde richten soll; aber ich kann mich denn doch nicht dazu verstehen.

Die weimarer Gesellschaft hatte übrigens zu dieser Zeit mälig ein anderes Gesicht bekommen: der kraftgenialische Tumult war vertos’t. Der Dichter hatte den Zauberstab, womit er das phantastisch-bunte Treiben der lustigen Zeit von Weimar hervorgerufen und gelenkt, beiseite gelegt und es war wieder still geworden in der kleinen Residenzstadt an der Ilm, so still, daß die gute, lustige Herzogin Amalie die Zeit und die Menschen sehr schläfrig fand. Der Tonangeber Wolfgang brachte durch sein Beispiel anstatt des verrauschten Brausens und Sausens die Beschäftigung mit der Natur und ihren Erscheinungsformen in die Mode. Was ihm selber bekanntlich heiliger Ernst und wissenschaftliches Streben war, wurde den Herren und Damen der „Gesellschaft“ zur modischen Liebhaberei: wie früher mit Wertherei und Faustismus, so wurde jetzt mit Mineralogie, Botanik und Osteologie dilettirt. Auch die dumpfe Schwüle, welche dem ungeheuren Gewitter der Revolution voraufging, machte sich fühlbar. Nur ganz Gedankenlose konnten die schwarzen Wolken übersehen, welche immer dichter, immer schwerer am mehr und mehr sich verengenden Horizont heraufzogen. Der Herzog Karl August, durch seinen Dichterfreund mit Geduld, Ausdauer und Geschicklichkeit von dem Boden jugendlichen Ueberschwanges sachte auf den des Lebensernstes und der Pflichterfüllung herübergerückt, suchte sich unter seinen Mitfürsten in Sachen der preußisch-friedrich’schen Fürstenbundpolitik diplomatisch nützlich zu machen und nahm an dem aufklärerischen Geheimbundwesen jener Tage sehr regsam Theil. Auch Goethe scheint für eine Weile – und zwar für eine geraume Weile – für die Sache der Kultur und Humanität von geheimbündischer Thätigkeit Großes erwartet zu haben. Aus den Stanzen der „Geheimnisse“ lies’t ein kundiges Auge leicht heraus, daß sie von einem Bruder Freimaurer gedichtet worden sind. In der That, zur Sommerzeit von 1780 hatte der Dichter, und mit ihm zugleich sein herzoglicher Freund, das Schurzfell umgebunden und Winkelmaß und Kelle zur Hand genommen. Die Maurerei war, wie bekannt, in dem großen Entwickelungsprozeß von damals ein sehr wirksames Ferment. Sie war geradezu ein eifrig angestellter Versuch, der glorreichen Idee der Aufklärung zu sozialer Gestaltung zu verhelfen; sie war eine kraftvolle Feder im großen Triebwerk der Vorschrittsbewegung des Jahrhunderts. „Des Maurers Wandeln“, sang Bruder Wolfgang im „Symbolum“ –

„Des Maurers Wandeln
Es gleicht dem Leben,
Und sein Bestreben
Es gleicht dem Handeln
Der Menschen auf Erden.

Die Zukunft decket
Schmerzen und Glücke
Schrittweis’ dem Blicke;
Doch ungeschrecket
Dringen wir vorwärts.“

Wir wissen ja, ein starker Zug zum Geheimnißvollen war von jeher im Wesen des Dichters gewesen. Zudem entsprach das maurerisch-stille Wirken im Dienste der Humanität ganz und gar der ästhetisch-feinfühligen Abneigung Goethe’s vor dem Gelärm und Getöse des Marktes und der Gasse. Uebrigens gehörte er zu den entschiedensten Vorwärtsdringern innerhalb der deutschen Logen. Ist er doch mit Herder und dem Herzog Karl August auch dem Illuminatenorden beigetreten, welchen der Professor Adam Weishaupt aus der Maurerei herausgebildet und im Jahre 1776 zu Ingolstadt aufgethan hatte, ein höchst heilsames, aber natürlich den Dunkelmännern tiefverhaßtes Licht in der altbairischen Finsterniß. Einer der begeistertsten und thätigsten Illuminati, Bode, mag der Hierophant oder Mystagog gewesen sein, welcher die Weimarer Logenbrüder und die Mysterien des Illuminatismus einweihte, welcher übrigens, wie bekannt, von seiten der Hierarchen und Despoten bald als eine arge religiöse und politische Ketzerei wüthend verlästert und verfolgt wurde. Was unsern Dichter angeht, so ist er sein Lebenlang ein werkthätiger Arbeiter am großen Bau der Vervollkommnung der Menschheit geblieben, ohne freilich seine Zweifel, ob dieser Bau jemals unter Dach gebracht und vollendet werden könnte, zu verbergen. Seine Maurerbruderschaft bezeugen nicht nur seine Logenlieder, unter welchen der „Zwischengesang“ zur Logenfeier vom 3. September 1825 das gehaltvollste sein dürfte,[1] sondern auch und noch bedeutsamer die dichterische Verwerthung und Verklärung maurerischer Tendenzen, Einrichtungen und Bräuche im Wilhelm Meister und zwar sowohl in den „Lehrjahren“ als auch (und zwar noch nachdrucksamer und systematischer) in den „Wanderjahren“.

„Meisters Lehrjahre“ waren in diesem und dem folgenden Jahre die den Dichter am meisten anziehende und fesselnde Beschäftigung: das 6. Buch des Romans wurde mälig zu Ende gebracht. In diese Zeit fiel auch der Entwurf und die Ausführung der beiden Akte des „Elpenor“, welcher Fragment geblieben, aber für Goethe’s Emporschreiten von formaler Wichtigkeit geworden ist, weil er hier seinem dramatischen Stile den fünffüßigen Jambus aneignete. Insofern kann der „Elpenor“ als eine Vorstudie zur „Iphigenie“ und zum „Tasso“ angesehen werden, in welchen Dichtungen, wie später in der „Natürlichen Tochter“, unser Dichter diese Versart mit dem herrlichsten Schmelz geschmückt, mit dem innigsten Wohllaut erfüllt hat. Sonst ist aus den Jahren 1785–86 des Erquicklichen oder Bedeutenden im Leben und Thun Goethe’s wenig zu melden. Im Sommer des ersteren Jahres ging er in Knebels Gesellschaft nach Karlsbad, den nachmaligen vieljährig wiederholten Gebrauch dieses Gesundbrunnens anhebend. Zur gleichen Zeit war der Entschluß gereift, eine Sammlung seiner bis dahin zuwegegebrachten dichterischen Schöpfungen zu veranstalten. Dieser Entschluß wurde zur That, und im Herbste von 1786 lagen die vier ersten Bände dieser ersten Gesammtausgabe goethe’scher Werke bereit, bei Göschen in Leipzig zu erscheinen. In den Sommer dieses Jahres fiel auch der nie wieder geheilte Bruch mit Lavater, welcher nach Weimar gekommen und von dem Dichter gastfreundlich beherbergt worden war. Aber die Zeiten kraftgenialischer Schwärmerei waren vorüber, für Goethe wenigstens. Denn der züricher Apostel war der alte geblieben: ein wunderlicher Mischmasch von, wie sich der Dichter später in den „Xenien“ über ihn ausgelassen hat, „Hohem“ und „Niedrem“ mit zwischenhinein gestellter „Eitelkeit“. Als der Gast fort war, schrieb Goethe an Lotte von Stein: „Kein herzlich, vertraulich Wort ist unter uns gewechselt worden, und ich bin Haß und Liebe auf ewig los; ich habe unter seine Existenz einen großen Strich gemacht.“ Ach, diese Striche! Wer hat sie nicht gemacht, nicht machen müssen? Aber wer weiß nicht auch, daß an jedem derartigen Strich ein Stück des eigenen Lebens hängen bleibt?

Einen Strich anderer Art, aber doch immer auch einen abschließenden, machte der Dichter im folgenden Jahre unter einen bedeutsamen Abschnitt seines Daseins. Er hatte schon lange das Gefühl mit sich herumgetragen, daß es so nicht weitergehen könnte, daß er fortmüßte von Weimar; wenn nicht für immer, doch für längere Zeit. Er mußte sich doch im Stillen sagen, daß er eigentlich seit einem Jahrzehnt viele Zeit vertändelt habe, mit flachsensingischem Hofdienste, mit flachsensingischer

  1. Laßt fahren hin das allzu Flüchtige!
    Ihr sucht bei ihm vergebens Rath.
    In dem Vergangnen lebt das Tüchtige,
    Verewigt sich zu schöner That.

    Und so gewinnt sich das Lebendige
    Durch Folg’ aus Folge neue Kraft;
    Denn die Gesinnung, die beständige,
    Sie macht allein den Menschen dauerhaft.

    So lös’t sich jene große Frage
    Nach unserm zweiten Vaterland;
    Denn das Beständige der ird’schen Tage
    Verbürgt uns ewigen Bestand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_842.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)