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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

hier, nur daß kein eiserner, sondern nur bald ein neuer Zahn erbeten wird.

In den Sagen, Märchen und Spukgeschichten der Luserner spielen der Teufel, den sie michel oder selander nennen, und auch die Hexen, vor deren Tücke man namentlich die kleinen Kinder hüten muß, eine große Rolle. Ob die Hexe identisch ist mit dem „will weib“ (unter dem „wille freule“ versteht man das Wiesel), kann ich nicht sagen.

Mit Entziehung der Ruhe im Grabe werden nicht nur die Bösen, wie zum Beispiel die Grenzsteinfrevler, bestraft, sondern auch jene Beerdigten, in deren Gewändern ein Geldstück zurückgeblieben ist. Auffallender Weise findet sich in Luserna auch der Vampyraberglaube, und das Tollste dabei ist, daß nicht ein Abgeschiedener das Geschäft des Blutsaugens übernimmt, sondern die Seele eines lebenden Menschen, bei dessen Taufe irgend ein Formfehler begangen worden ist.

Ob die Luserner, wie es mir versichert wurde, dergleichen Spuk nur als Stoff für die Unterhaltung in den langen Winternächten betrachten, oder ob sie wirklich an ihre Teufel, Hexen und Vampyre glauben, wage ich nicht zu entscheiden. Wie jedes Land sein Abdera hat, heiße es nun Schilda, Lalenburg oder Wasungen, so auch unsere Sprachinsel. Hier heißen die närrischen Käuze, die den Ochsen auf die Stadtmauer zogen, „Karauner“, und wer die Schwänke der Schildbürger kennt, der kennt auch die Karaunerstreiche.

Noch sei der eigenthümlichen Flunkerei gedacht, mittelst welcher die Luserner Mütter gewisse lästige Fragen der Kinder beantworten. Wenn in Deutschland ein Kind an die Eltern die Frage richtet: „Wo kommen denn eigentlich die kleinen Kinder her?“ so denuncirt die Mama gewöhnlich den Storch, und wenn die ungläubige Range darauf erwidert: „Aber der Herr Lehrer hat in der Naturgeschichte nichts davon gesagt,“ dann legt sich der Papa in’s Mittel, räuspert sich und spricht höchst weise: „Wo die Kinder herkommen, das ist ein Naturgeheimniß, welches die Gelehrten noch nicht ergründet haben.“ Ich hoffe mir den Dank unzähliger Eltern zu verdienen, indem ich ihnen mittheile, wie die Luserner Eltern sich in einem solchen Falle helfen. „Die Kinder,“ sagen sie, „bringt die Frau Klafter, die am Bach von Ueasn wohnt; sie hat die Kinder in großen Fässern und füttert sie mit Lehm.“ Wenn es donnert, so sagt man in Luserna nicht wie in manchen Gegenden Deutschlands: „Die Engel spielen Kegel,“ sondern: „Die Frau Klafter spült ihre Fässer aus.“

So viel über der Luserner Sprache und Sage.

Diese Sprachinsel nun besaß bis vor sechs Jahren nur eine italienische Schule, die auch heute noch neben der deutschen besteht. Das Verdienst, die letztere in’s Leben gerufen zu haben, gebührt keinem Anderen als meinem geselligen Gastfreund, dem Curaten Franz Zuchristian. Anfangs nur auf seine eigenen Kräfte angewiesen, erhielt er, nachdem die Erfolge seiner rastlosen Thätigkeit für die Lebensfähigkeit der deutschen Schule ein glänzendes Zeugniß abgelegt halten (die Schule wurde im vorigen Winter von hundertdreißig Kindern besucht), endlich von Seiten der Regierung eine jährliche Unterstützung, die er in der uneigennützigsten Weise zum Besten der seiner Obhut anvertrauten Kleinen verwendet.

Möge der edle „Pfaff“ noch lange der Gemeinde Luserna erhalten bleiben!

Der Tag, der mir so Mannigfaltiges geboten, wurde, wie es sich von selbst versteht, beim Läuten der Becher zu Grabe getragen. Auch das lange Sitzenbleiben ist eine germanische Eigenthümlichkeit, die sich auf der vereinsamten Sprachinsel in ihrer ganzen Reinheit erhalten hat.

Außer dem Curaten fanden sich bei der Abendsitzung im Wirthshaus auch die beiden obengenannten Lehrer ein, und der eine brachte leider ein Buch mit, welches den Titel führt: „Lusernisches Wörterbuch“ und Dr. Ignaz von Zingerle zum Verfasser hat – leider sage ich, denn selbstverständlich brachte ich das Buch später in meinen Besitz, und gegenwärtig, da ich dies niederschreibe, liegt es nicht weit von mir und folglich die Versuchung, mich mit fremden Federn zu schmücken, sehr nahe.

Der rothe Tirolerwein, den der Wirth in großen Krügen unermüdlich herbeischleppte, wurde durch heitere Gespräche gewürzt. Der Curat hatte in seiner früheren Eigenschaft als Feldpater manches lustige Stückchen erlebt, das er jetzt zum Besten gab, und ich meinerseits erzählte allerhand Streiche, die ich und Meinesgleichen dereinst auf der Alma mater verübt hatten. Zu später Stunde trennten wir uns, als ich aber am anderen Morgen mein Bündel geschnürt hatte, kamen die Herren noch einmal, um mir Lebewohl zu sagen.

Mit herzlichem Dank schied ich von dem geistlichen Herren, die beiden Lehrer aber ließen es sich nicht nehmen, mich ein paar Stunden weit zu begleiten, bis ich den Weg nicht mehr verfehlen konnte. So erreichte ich denn die sogenannte neue Straße, welche allerdings auch sehr beschwerlich war, aber doch keine salti mortali nöthig machte, und gelangte in einigen Stunden nach Levico, wo die geputzten Badegäste mich mit spöttischen Blicken musterten und mir ihr Bedauern ausdrückten, daß ich den gestrigen Ball im Curhaus versäumt habe.

Dr. Baumbach.




Rettig und Radieschen.
Als Zeugen für die Darwin’sche Theorie.


Es vergeht in unserer Zeit beinahe keine Woche, in welcher nicht neue Zeugnisse für die Richtigkeit einer Theorie eingebracht würden, der unter allen Entdeckungen, allen wissenschaftlichen Fortschritten unseres Jahrhunderts der erste Rang gebührt. Die Naturforscher der verschiedensten Glaubensbekenntnisse und philosophischen Richtungen endigen, nachdem sie sich dem eingehenden Studium irgend einer Thier- oder Pflanzenclasse hingegeben, fast ohne Ausnahme mit der Erkenntniß der Thatsache, auf welcher die Darwin’sche Theorie beruht: es giebt keine wirklichen, beständigen Arten in der Natur, sondern nur Uebergänge. Wir überlassen es gerne Denen, welche die alle Tradition überragende Erhabenheit der Natur- und Gottesanschauung, die diese Theorie ihren Anhängern eröffnet, nicht zu erfassen vermögen, sich an diesen Fortschritten der Erkenntniß zu ärgern, das aber tritt unleugbar hervor, daß das Häuflein der Darwin-Gegner unter den Naturkundigen – der Andern Meinung fällt nicht in’s Gewicht – mit jedem Jahre mehr zusammenschmilzt.

Darwin wurde bekanntlich in seinen Ansichten am meisten bestärkt, oder gar erst auf dieselben geführt, durch das Studium der außerordentlichen Veränderungen, denen Pflanzen und Thiere im Zustande der Zähmung und Züchtung unterliegen. Wir wissen Alle, daß Thierzüchter und Gärtner durch eine geschickte Benutzung des freiwilligen Variirens in der Zuchtwahl förmlich nach Belieben neue Racen und Formen, die zuweilen in’s Unendliche gehen, erzeugen können, Alle die unzähligen Formen der Haustaube stammen wahrscheinlich von einer einzigen wilden Stammart ab, und ebenso die bis zur Unähnlichkeit verschiedenen Gemüsesorten, welche, mit der Endsilbe Kohl gekennzeichnet, unserem Speisezettel im Winter selten fehlen. Meistens sind die Veränderungen, welche die Cultur bewirkt, so tiefgehend, daß wir die Stammformen unserer Hausthiere und Gartenpflanzen kaum wiederzuerkennen im Stande sind. Die kleine Meerstrandpflanze, welche man für die Urgroßmutter der Familie Kohl ansieht, hat weder mit Kopfkohl und Kohlrabi noch mit Blumen-, Wirsing-, Kraus- oder Rosenkohl, und wie sie sonst noch heißen mögen, irgend welche nähere Aehnlichkeit. Gleichwohl hat man gerade die Züchtungserfolge als Beweismittel gegen die Darwin’sche Theorie anzuwenden gesucht, indem man anführte, die Züchtung sei durchaus nicht im Stande gewesen, wirklich tiefgehende Veränderungen hervorzurufen, sie habe in den beinahe fünftausend Jahren, durch welche man ihre Erfolge vergleichen könne, viel zu wenig geleistet. So zum Beispiel gelinge es dem Gärtner nicht, diejenigen Organe zu verändern, welche dem Botaniker die Hauptkennzeichen der Arten und Gattungen liefern, seine ganze Kunst erschöpfe sich an der Geschmacksverbesserung der Blatt-, Stengel-, Wurzel- und Fruchttheile, an der Vermehrung und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_846.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)