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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Galerie historischer Enthüllungen.


4. Arnold von Winkelried.*[1]


Wenn das schnaubende Dampfroß dahinrast auf jener Straße, die so recht in das Herz der schönen Schweiz hineinführt, auf der Eisenbahn von Basel nach Luzern, so geht es eine Zeitlang durch eine einförmige Ebene ohne nennenswerte Abwechselung; aber auf einmal erscheint auf der östlichen Seite der Bahn ein schöner See; in Mitteldeutschland, das an Seen arm, wäre er ein respectables Wasserbecken, in Asien und Amerika, in den Reichen der Riesenseen ein unbedeutender Teich; in der Schweiz gehört er zu den Wasserspiegeln mittlerer Größe. Jenseits der ansehnlich breiten blauen Fläche erheben sich mit Wiese und Wald und mit Obstbäumen bedeckte Höhen terrassenförmig, und dort liegt auch am Ufer das winzige Städtchen, das dem See den Namen gegeben hat, der aber zugleich erhebende historische Erinnerungen wachruft. Dort wird jährlich am 9. Juli unter dem Schatten der Bäume bei einer Capelle ein Fest gefeiert, das der Rettung des Vaterlandes durch einen glänzenden Sieg gilt. Wir meinen die Schlacht bei Sempach im Jahre 1386. Und mit diesem Siege ist der Name eines Mannes verknüpft, der nach mehrhundertjähriger Ueberlieferung denselben durch seine That herbeigeführt hat und durch diese unsterblich geworden ist, eines Mannes, der in der Reihe der Schweizer Helden die erste Stelle nach Tell einnimmt und im gegenwärtigen historischen Bewußtsein der Schweizer sowohl, wie der Ausländer, welche die Geschichte der Schweiz kennen, von der Erinnerung an die Schlacht bei Sempach schlechterdings nicht zu trennen ist. Es ist der Name Arnold von Winkelried’s aus Unterwalden, dessen schönes Denkmal, die That darstellend, seit zwölf Jahren seinen Heimathsort Stans in Unterwalden schmückt. Zahllose Bilder stellen diese Heldenthat dar, wie er die Mauer der feindlichen Speere bricht und in diesen mit den Worten: „Ich will Euch eine Gasse machen – sorgt für mein Weib und meine Kinder!“ den Opfertod für das Vaterland findet. Andere Bilder malen den Augenblick nach der That, wieder andere den Abschied des Helden von Weib und Kind. Sehr oft ist die That dramatisch bearbeitet worden, wenn auch nicht von Meisterhand, und Volkslieder variiren das Thema:

„Wir singen heut’ ein heilig Lied,
Es gilt dem Helden Winkelried.“

Die Heldengestalt Arnold von Winkelried’s hat mit der Zeit auf dem alterthümlichen Goldgrunde der Schlacht bei Sempach einen solchen Umfang an Charakter und Kraft gewonnen, daß gar nicht mehr gefragt wird, wodurch das Häuflein schlecht bewehrter und noch schlechter geübter Eidgenossen gegenüber der kolossalen Uebermacht des österreichisch ritterlichen Heeres den Sieg errang. Es gilt als selbstverständlich, daß dieses Resultat allein der Großthat Winkelried’s zu verdanken war, und der schweizerische Patriotismus sowohl, wie seine Bewunderer vergessen dabei auffallender Weise, daß der Tapferkeit der Schweizer als Volk und als Ganzes nicht viel zu thun übrig blieb, wenn ohne die freiwillige Selbstaufopferung eines Einzelnen die Sache der Freiheit verloren gewesen wäre.

Früher ist nun, in Bezug auf Winkelried, wie auf Tell, wenig danach gefragt worden, seit welcher Zeit sein Name als derjenige des Helden, der die Schlacht entschied, genannt wird. Die Gestalt des Helden stand im Bewußtsein der Schweizer und ihrer Freunde so fest, daß man gar nicht daran dachte, es könnte an seiner historischen Evidenz gerüttelt werden. Es wurde in der That dieser Versuch nicht gewagt, ehe die Geschichte von Wilhelm Tell gründlich in Zweifel gestellt war. Erst da wurde auch in Bezug auf Winkelried gefragt: Welche Berechtigung hat dieser Charakter, in der Geschichte eine Rolle zu spielen? Wie alt ist die Erzählung von seiner That? Konnte der schweizerische Sieg bei Sempach nicht ohne dieselbe erfochten werden?

Sehen wir nun nach, wie wir an der Hand genauer und gewissenhafter historischer Forschung auf diese Fragen antworten. Vorerst wird es nothwendig sein, in gedrängter Kürze bis auf die Ursachen zurückzugehen, welche den Zusammenstoß der österreichischen und schweizerischen Waffen bei Sempach herbeiführten.

Die Schweizer hatten beinahe dreißig Jahre in Frieden mit Oesterreich gelebt, ohne daß deshalb diese Macht ihre Ansprüche auf schweizerische Gebietstheile aufgegeben hätte. Der Friede konnte daher nicht von Bestand sein, namentlich da die ältesten Cantone von ihren Bundesgenossen und Vorposten, Bern und Zürich, durch österreichisches Gebiet getrennt waren, das sie sich aneignen mußten, wenn ihr Bund nicht steter Gefahr vor Angriffen ausgesetzt sein sollte. Am meisten dem Erbfeinde bloßgestellt war Luzern, zudem auch in seinem Verkehre durch die nahe vor seinen Thoren im Widerspruche mit ausgestellten Freiheitsbriefen erhobenen österreichischen Zölle empfindlich beeinträchtigt. Als nun ein an den Herzog Leopold von Oesterreich gerichtetes Verlangen um Aufhebung dieser Zölle keine Beachtung fand, zogen die Luzerner frischweg nach dem Städtchen Rothenburg, wo der lästigste Zoll erhoben wurde, nahmen es ein und rissen Thore und Mauern nieder. Das nämliche Schicksal hatten noch mehrere andere Burgen, und die Folge war, daß die Bevölkerung der ganzen Umgegend, darunter auch die Bürgerschaft von Sempach, sich in das Burgrecht von Luzern aufnehmen ließ. Nun sagte Herzog Leopold den Schweizern den Frieden ab und dasselbe thaten alle seine Bundesgenossen und Vasallen. Er zog mit denselben, die ein stattliches Heer bildeten, gerade auf Luzern los, während er zugleich durch eine Truppenabtheilung Zürich beschäftigte, damit es den Urschweizern nicht beistehen könne. Das Hauptheer langte am 9. Juli 1386 vor Sempach an, und von hier gehen die Berichte verschiedener Zeiten und Parteien auseinander.

Die österreichischen Geschichtsschreiber der nächsten hundert Jahre†[2] erzählen den Hergang der Schlacht bei Sempach ungefähr folgendermaßen: Das Heer des Herzogs stieß unvermuthet (?) auf die Schweizer und Leopold schickte einen Theil seiner Truppen gegen dieselben in’s Gefecht, welche sie kampfbereit empfingen. Aber die Ritter waren zu kampflustig und stürmten ungeordnet gegen die Feinde. Auch des Herzogs Banner war dabei. Anfänglich fochten die Oesterreicher mit Glück, doch bald hörte der Herzog ein klägliches Geschrei: „Rette Oesterreich, rette!“ und sah sein Banner in Gefahr. Da rief er seinen Rittern und Knechten, daß sie mit ihm absäßen und den Kämpfenden zu Hülfe eilten. Es geschah so; der Fürst that selbst wie seine Leute und kämpfte wie ein Löwe. Aber obgleich mancher Feind unter seinen und seiner Leute Streichen fiel, neigte sich der Sieg auf die Seite der Schweizer, und der Herzog, welcher, als es noch Zeit dazu war, hätte flüchten können, wurde mit vielen Rittern und Knechten erschlagen. Viel trug zu diesem für Oesterreich schimpflichen Ende bei, daß ein Theil der Leute des Herzogs zu Pferde geblieben war und bei der Wendung des Schlachtglückes die Flucht ergriffen hatte. Auch ist nicht außer Acht zu lassen, daß die österreichischen Berichte behaupten, das Heer des Herzogs sei an Zahl geringer gewesen, als das der Schweizer. Keiner der österreichischen Berichte aber weiß etwas davon, daß die Ritter, nachdem sie abgestiegen, mit vorgehaltenen Speeren eine Mauer gebildet hätten, keiner weiß etwas von Winkelried’s Namen und That. Alle schreiben den Ausgang der geringen Zahl der Oesterreicher, ihrem Mangel an

  1. * Der Verfasser fühlt sich gedrungen, von vornherein gegen jede falsche Unterschiebung, die ihm in Bezug auf diesen Artikel wieder gemacht werden könnte, zu protestiren. Man hat seine Arbeit über Tell und den Rütlibund (1872, Nr. 49) als einen Angriff auf die patriotischen Gefühle der Schweizer, zu denen er ja selbst gehört, und seine Arbeit über Calvin (1873, Nr. 2) sogar als einen Ausfluß katholisch-jesuitischer Tendenzen verdächtigt. Beides ist gleich ungerechtfertigt. Weder gehört es zum Patriotismus, alle Traditionen seines Landes ohne Rücksicht auf ihre historische Nachweisbarkeit für wahr zu halten, noch zu antirömischer Gesinnung, in welcher der Verfasser gewiß das Aeußerste geleistet, alle Reformatoren und Wortführer des Protestantismus zu feiern und ihre Thaten durch Dick und Dünn zu vertheidigen. Wenn daher der Verfasser nachgewiesen (oder die Nachweise übersichtlich dargestellt), daß Tell nicht gelebt und daß Calvin kein Reformator, sondern ein protestantischer Inquisitor gewesen, so hat er einzig und allein der Wahrheit gedient und es hindert ihn dies so wenig, ein guter Schweizer zu bleiben, als es ihn hindert, wirkliche Reformatoren, wie namentlich Zwingli und Luther, hoch zu verehren und ihrem Auftreten begeisterten Beifall zu zollen.
  2. † Es gehören dazu: Der Chronist Gregor Hagen, die Reimchronik Peter Suchenwirt’s, die Chronik Königshofen’s, die Constanzer und die sogenannte Klingenberger Chronik.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_006.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)