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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)



Das ist, o Sohn, die Allmutter, die Erde.
Drinnen und drauf herrscht ein ewiges Werde;
Das ist die mild in der Sonne erglühende,
Das ist die freundliche, grünende, blühende.
Doch in der Tiefe sind düstere Gluthen;
Unter den Bergen und wallenden Fluthen,
Allüberall ist ein wunderbar Weben,
Sinken und Heben, Streiten und Streben,
Ewiges Sterben, ewig Beleben,
Ewig Verschwinden, ewig Entfalten,
Geschlecht auf Geschlecht und Gestalt auf Gestalten.

Auf ihr sollst Du wohnen, Dich freu’n und genießen,
Sie sollst Du erforschen, sie sollst Du erschließen.
Strebe und streife,
Schwelge und schweife,
Dringe hinein!
Sie sei Dein, sie sei Dein!
Und Du selbst magst der Beste, der Bravste drauf sein!

(Die Eltern nehmen jetzt den Knaben in ihre Mitte. Alle Anwesende treten, ihn zum Willkommen begrüßend, hinzu.)

Das sind die Menschen – ergreif’ ihre Hände
Und habe sie lieb, sei getreu bis an’s Ende,
Doch fliehe die Falschen, die Schlechten, Gemeinen
Und halte Dich nur zu den Echten und Reinen!
Sei stark in Bedrängniß, sei muthig im Streit,
Doch weich, wenn bei Andern Du Noth siehst und Leid!
Erkennen und Helfen – Genießen und Streben
Und – das Glück des Beglückens, das fülle Dein Leben!

(Kurze Musik von heiterem Charakter. Ein bekränzter Becher mit Wein wird hereingetragen.)

Empfange denn nun die fröhlichste Weihe,
Nicht klebt sie am Dogma, die schöne, die freie,
Empfange der Traube Wundersaft,
Des Geistes Symbol und der Lebenskraft!

Entquollen den Brüsten der Allmutter Erde,
Durchglüht von den Strahlen der himmlischen Sonne,
So ward er bereitet, auf daß er werde
Den irdischen Herzen zur himmlischen Wonne

(Dreimal werden jetzt seine Lippen damit benetzt.)

Lerne sie kennen, die liebliche Labe,
Koste die edle, die köstliche Gabe,
Noch sei sie Dir nur
Symbol der erfreuenden Mutter Natur!

(Indem der Sprecher den Wein über ihn ausgießt:)

Einst werde zu Theil Dir in Ueberfluß
Des Daseins hochherrlicher Vollgenuß! –

(Eine jubelnde Musik fällt ein, die aber bald in eine sanfte und ernste Weise übergeht, während der Knabe wieder in die Arme der Mutter gelegt wird.)

Nun schließe die Augen am Mutterherzen,
Bist frei noch von nagenden Sorgen und Schmerzen.
In der Mutter Arm
Ruht sich’s gar warm.
So schlaf’ und gedeihe und sammle Dir Stärke
Zum schönen Berufe, zum heiligen Werke!
Doch wirst Du zum Letzten die Augen einst schließen,
Ist’s aus mit des Daseins Kampf und Genießen,
Umsteh’n sie Dein Lager mit Klagen und Weinen,
Die treu Dir Verbund’nen, die Lieben, die Deinen,
O mögest Du dann, wenn Dein Auge will brechen,
Zu Deinen Getreuen getrost können sprechen:
„Ich ward ein Mensch, und es war meine Sendung
Zu helfen mit Euch an der Menschheit Vollendung.
Ich that, was ich konnte; – was ich gesollt,
In redlichem Streben hab’ ich’s gewollt.“

Hermann Allmers.




Ein New-Yorker Millionär.


Der Sonnabend Abend, am 22. November 1873, bot in New-York dem aufmerksamen Beobachter des stets unruhig, fast möcht’ ich sagen, krampfhaft fluthenden Lebens in der typischen Yankeestadt ein ganz ungewöhnliches Bild. Eine eigenthümliche, tief gehende, aber keineswegs laute Aufregung hatte sich aller Classen der gewaltigen Metropole bemächtigt. In der sogenannten „Abendbörse“ des Fünfte-Avenue-Hôtels drängten sich Massen von eifrig discutirenden Männern, die Crême der Geldprotzen, Börsenspieler, Eisenbahn-Actien-Speculanten und Anderer. Wie ernst sie sich unterhielten! Aber auf den Mienen fast Aller lag Befriedigung, ja eine gewisse Feierlichkeit. Sie redeten also wohl nicht über die jüngste Panik (Krach), – nein, in der That nicht, es fehlen ja gänzlich die gewohnten Schlagwörter ihres Börsenrothwelsches. Auf den Straßen, in den Omnibus, in den Pferdebahnwagen schütteln sich Leute vergnügt mit bedeutungsvollem Blicke die Hände, und trennen sich wieder oder ziehen ihre Abendblätter hervor, ohne mehr zu äußern, als eine oder die andere jener kurzen und doch so ausdrucksvollen Einsilben der englischen Sprache. In den Restaurationen, auf den harten Bänken der Lagerbiersalons sitzend, vor den Schenktischen der Giftbuden – bar-rooms genannt, – stehend, dieselbe tiefgehende Aufregung, in letzteren nicht ohne einige Kraftausdrücke, die einem Fluche so ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, – am hellerleuchteten Abendtische des Reichen, in dem freundlichen Speisezimmer des wohlhäbigen Kaufmannes, Bürgers und Handwerkers, wie in dem engern Raume, wo der ermüdete Arbeiter die Seinigen um sich versammelt hat – überall dieselbe Aufregung, derselbe Gegenstand der Unterhaltung. War es der mit Spanien wegen des bestialischen Santiago-Autodafés drohende Krieg denn? Nein, auch das nicht. Was nur konnte die Millionen Menschen in einem Grade beschäftigen, wie ich es seit dem Tage nicht gesehen, als im Jahre 1861 die Nachricht von der Beschießung Fort Sumters tausendstimmig durch die Straßen gerufen wurde? Der Mund der zehntausend kleinen Zeitungsträger und Verkäuferinnen in ihrem eiligen Laufe über die Trottoirs, in ihrem katzenartigen Aufspringen und Abspringen von den Pferdebahnwagen verkündet es laut bis in das sechste Stockwerk der Paläste, bis in die tiefsten Bier- und Schnapsspelunken, von der fünften Avenue bis zum schmutzigsten, verrufensten Gäßchen, von Wallstreet bis zu den stillen Gartenhäusern der Vorstädte: „Boss Tweed condemned“ (Meister Tweed verurtheilt)!

Wer ist Tweed? und was hatte er verbrochen?

Wilhelm M. Tweed, ein Irländer, war bis vor etwa zehn Jahren dem großen Publicum gänzlich unbekannt, ein Advocat dritter Classe, der mit einer zahlreichen Familie in keineswegs glänzenden Verhältnissen lebte. Er galt für einen tüchtigen Geschäftsmann, von durchschnittlicher Redlichkeit, und hatte sich zu einem der Leiter der ultrademokratischen geheimen Gesellschaft „Tammany“ aufgeschwungen, einer politischen Verbindung, die, mit kurzen Unterbrechungen, die Politik des Staates New-York geleitet hat, und nicht ohne Einfluß auf die der Vereinigten Staaten gewesen ist. In dieser Gesellschaft vereinigten und vereinigen sich noch heute alle Elemente, die, bei einer auf allgemeinem und directem Wahlrechte beruhenden Verfassung und der in Republiken schwer vermeidlichen Laxität der Gesetzesanwendung, derselben eine ungeheure, fast unwiderstehliche Macht geben mußten. Die raffinirtesten Leiter, absolut rücksichtslos in den von ihnen zu ergreifenden Maßregeln, mit großartigen Mitteln ausgestattet, von den schlausten Advocaten berathen, von einem Haufen der gewissenlosesten und verwegensten Wahlfälscher unterstützt, an der Spitze der jeden Augenblick zu einem offenen Faustkampfe fertigen Fälscher, Meineidigen, „Repeaters“ (solche, die fünfzigmal und mehr bei einer Wahl stimmen) und wie sie der Katalog des Strafgesetzbuches sonst noch benennen mag, aller Nationen, besonders aber der irischen, und das Alles inspirirt, unterstützt und gesegnet von den Jesuiten und dem ganzen katholischen Pfaffenthum – sollten diese

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_009.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)