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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

innersten Marke wüthet. Gott! Gott! Was ist das im Menschen, was die Leute Liebe nennen?

Drum Lieb’ ist wohl wie Wind im Meer;
Sein Sausen ihr wohl hört,
Allein ihr wisset nicht, woher
Er kommt? wohin er fährt?

Wär’ er doch nur schon wieder zu allen T– gefahren!“ – „Sie sind also krank gewesen,“ heißt es im nächsten Briefe, „oder noch krank?“ Das ist auch von Herzen albern. Es geht mir indessen nicht viel besser. Ich befinde mich fast nie in einem Gefühl vollkommener Gesundheit; werde auch wohl nie wieder dazu gelangen, es wäre denn, daß dieser oder jener Traum erfüllt würde. Einer von diesen Träumen ist, befreyet von allen meinen Hand- und Beinschellen, als ein vollkommener Hans ohne Sorgen unter den Hirten der Alpen, so lange es mir behagte, meinen Aufenthalt aufschlagen zu können.

Gentle youth, oh tell me true,
Is it not the same with you?

Könnte ich nur meiner Frau ein hinlängliches Auskommen anweisen, so ließ’ ich mir morgen bei Bruder Bethgen ein Pilgerkleid machen und wanderte mit Stock und Ranzen immer zum Dorf hinaus. Aber ach! – würde ich dem Geyer entfliehen, der mir täglich und stündlich das immer wieder wachsende Herz aus dem Leibe hackt? Gott im Himmel! Was soll daraus noch werden? … Ich darf nicht einmal wünschen, denn die Wünsche, die allein zu meinem Heil abzwecken könnten, scheinen mir schwarze Sünde, wovor ich zurückschaudere.“

In dieser verzweiflungsvollen Stimmung gewährt ihm ein vierwöchentlicher Besuch bei Boie, der als Stabssecretär des Feldmarschalls von Spörken nach Hannover berufen war, heilsame Erquickung. Der kluge Freund vermied es, ihn zu fruchtlosen Herzensergießungen zu veranlassen, versuchte ihn zu zerstreuen und auf andere Gedanken zu bringen, indem er ihn in seinen tüchtigen Umgangskreis, in das Kestner’sche und Mejer’sche Haus, einführte und ihn mit seinen literarischen Freunden und dem berühmten Schauspieler Schröder bekannt machte, für welchen die Hexenscenen aus Shakespeare’s „Macbeth“ übersetzt wurden. In heiterster Laune kehrte Bürger Ende März 1777 nach Hause zurück. Wenige Wochen nachher wurde sein Schwiegervater unvermuthet durch ein bösartiges Brust- und Gallenfieber hinweggerafft, was auf Bürger einen tiefen Eindruck machte und seine Gedanken auf Momente von dem Gegenstande seiner Leidenschaft ablenkte. Die aufopferungsvolle Energie, mit welcher er sofort die Ordnung der verwickelten Geschäfts- und Vermögensverhältnisse seines Schwiegervaters und die Sorge für dessen zahlreiche Familie in die Hand nahm, nöthigte seinen Freunden die wohlverdienteste Bewunderung ab. Er bewarb sich sofort um die erledigte Amtmannsstelle in Niedeck, die er freilich, trotz Boies warmer Fürsprache, nicht erhielt. Die interimistische Führung der Amtsgeschäfte daselbst, die Pacht- und Vormundschaftsangelegenheiten führten Bürger wieder täglich in Molly’s Gegenwart, welche später mit ihrer Mutter und den beiden Stiefschwestern nach dem eine Meile nördlich gelegenen Bösinghausen zog. Neue schmerzliche Kämpfe erwuchsen ihm, in denen jedoch immer noch das Pflichtgefühl Sieger blieb. Wieder war Sprickmann der Vertraute seines Kummers. Bürger schrieb ihm im Sommer 1777:

„Die Sorge für mein Nest voll Schwäger und Schwägerinnen liegt mir schwer auf dem Halse. Wär’ es nur allein für das Mädel, das ich meine, dann … Was soll ich zu dem übrigen Inhalt Eures Briefes sagen? Es ist ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben! Dies Sprüchlein ist mir so geläufig geworden, daß ich’s in alle Stammbücher schreibe. Mir steht nun bald Trennung von der Geliebten meines Herzens bevor. Was wird aus mir, und was aus Ihr werden? O, daß mich so viele heilige, wiewohl schwehre, saure Pflichten gegen Andere an die Welt fesseln! Die gegen mich scheinen mir Träume, die ich abschütteln würde. – O Sprickmann, hab’ ich Euch wohl von Robinson Crusoe’s Insel jemals gesagt? Wie herrlich, wenn wir da wären! Tausend Meilen weit rings umher von den Wogen des Weltmeers umströmt! In süßer, seliger Ruhe und Einsamkeit! Ha! – doch was hilft’s? Man muß die Zähne zusammenbeißen, die Augen zudrücken und mit zerfezter Stirn vorwärts durch die sperrigen Dornenhecken dringen.“ – „Hör’ einmal, Pursche,“ heißt es in dem nächsten Briefe an denselben Freund, der für eine unglückliche Ehe in den wechselvollsten Liebesabenteuern Ersatz suchte, „ich habe einen gar verdammten Gedanken. Nehmlich den: Alles zusammenzuraffen, in Ordnung zu bringen, mein Haus zu bestellen, die Meinigen zu versorgen, und dann … erwerthern nicht! aber allenfals bewaschingtonen. Denn unsere Weiber, wenn wir sie versorgen, verliehren nichts an uns. Oder, was meint Ihr, wenn wir so viel noch zusammentragen und mitnehmen könnten, um uns am Rhein oder einer andern anmuthigen geseegneten Gegend ein Häuschen und einen Weinberg zu kaufen? Darinn als ein Bauer zu arbeiten, zu leben und zu sterben, stelle ich mir gar paradiesisch vor. Aber ach! wird der Wurm unserer Qual dort sterben?“

So ist’s immer, hier wie dort, der laute Ruf des Gewissens, welcher den stets wiederkehrenden Gedanken einer gewaltsamen Zerreißung der ehelichen Fessel, kaum ausgesprochen, zurückweist.

Um diese Zeit sollte das Herz Bürger’s einen neuen herben Verlust erleiden, der ihn auf’s Tiefste erschütterte. Ein Fieber entriß ihm sein einziges Kind, Antoinette, das er mit abgöttischer Zärtlichkeit liebte.

„Mein kleines Mädel, hatte er noch vor Kurzem in stolzer Vaterfreude geprahlt, „soll einmal was Rechts werden. Das ist Dir ein Mädel! Andere Leute haben auch Mädels, sehn auch aus wie Mädel, sind auch Mädel, aber mein Mädel ist doch allein ein Mädel. Ich erschrecke manchmal ordentlich über die unerwartete Klarheit und die Strahlen, die aus dieser jungen Seele hervorgehn. Und eine Munterkeit! Ein Leben!“

Und Boie hatte mit theilnehmendem Scherze geantwortet: „Deinem kleinen Mädel gieb einen Kuß von mir. Wenn ich so in meinen Jahren stehen bleiben könnte, solltest Du sie für mich erziehen.“

Nun traf ihn ihr Tod wie ein Donnerschlag. „Verwichene Nacht,“ schrieb er dem Freunde von Niedeck aus, „haben sie mich nebst meiner Frau von unserm einzigen sterbenden Kinde weggerissen und hierher gebracht. „Jetzt merk ich, ob man’s schon noch verhehlt, daß meine ganze einzige Freude, ach! daß die Seele meines Lebens aufgeflogen ist. Gott erbarme sich unser! Laß mich für heute schweigen, liebster Boie, und meinen Jammer, meinen unendlichen Jammer, den Du nicht zu fassen vermagst, in die wüste Nacht ausheulen. So ein enormer Schmerz hat mein Herz noch nie belastet, und später konnt’ ich kaum sonst was auf Erden empfinden. Ach! Du hast mein Kind nicht gekannt; aber es war ein Mädchen von Anlagen des Geistes und Herzens, welches auch Blutfremde einen Engel nannten. Vor vierzehn Tagen blühte es noch in seiner wunderschönen Gesundheit. Nun hat ein Fieber – Gott weiß, woher es kam – die schöne Rose entblättert. Barmherziger Vater im Himmel, warum so hart? – Meine einzige Freude! – meine einzige! – Nachschrift. Ich hatte mich in meiner Muthmaßung, als ich Obiges schrieb, betrogen. Das Kind lebte noch und gab Hoffnung zur Besserung. Aber wozu? – Um mit gedoppeltem Schmerz mir diesen Morgen abzusterben.“

Bürger suchte die schmerzliche Erinnerung seines Verlustes zu übertäuben, indem er mit Eifer an die Sammlung und Ueberarbeitung seiner Gedichte ging. Anfangs wollte der lähmende Druck nicht weichen, der auf seinem Gemüthe lag, obschon Dorette ihn nach wenig Monden wieder mit einem Mädchen beschenkte, das viel Aehnlichkeit mit dem verstorbenen Schwesterchen besaß.

„Blos um meinetwillen,“ klagte er, „würde ich keinen Schritt mehr thun. Denn mir ist alles Erdenglück alleweile gar erstaunlich gleichgültig.“

Bald jedoch erwies die Muse sich ihm als treue Trösterin, und manches herrliche Lied entstand noch während des Drucks seiner Gedichte, so daß er, trotz des anfänglichen Zweifels, die versprochene Bogenzahl füllen zu können, zuletzt noch Vieles für eine künftige Sammlung zurücklegen mußte. Aber es war nur ein vorübergehender Anlauf von Kraft, und die Schwingen des Genius sanken müde herab, sobald ihm nicht mehr „das Feuer auf den Nägeln brannte“. Er verfiel in die alte Unlust und Traurigkeit, ehe noch seine Gedichtsammlung erschienen war – der Ruhm reizte ihn nicht mehr; überall umschwebte ihn das Bild der fernen Geliebten.

Ernstlicher trat der Gedanke einer längern Reise an ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_014.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)