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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

So war die Untersuchungsweise im Sommer 1849 im oberen Voigtlande in der That noch eine solche, die gegenüber derjenigen in anderen, weniger humanen Justizämtern, alle Anerkennung verdiente. So soll ganz besonders in jenen Tagen das Amt Voigtsberg gleich von vornherein seinem Namen von 1848, „Zwing-Voigtland“, alle Ehre haben zu Theil werden lassen.

Doch auch aus der Frohnveste des oberen Voigtlandes spülten die höher und höher steigenden Wogen der Reaction etwaige freundliche Rücksichten gegen politische Gefangene bald genug hinaus.

Es mochte Anfang September 1850 sein. Die Sonne warf lachend und lieblich den prachtvollsten Herbsttag auf die Erde. Es war Morgens fünf Uhr; da fuhr ein Steuerwäglein in das liebe heimathliche Dörfchen Schönberg am Capellenberge, in meine Residenz, herein, bespannt mit zwei etwas mageren Droschkenarabern, geführt von der kundigen Hand des damaligen königlichen Straßeneinnehmers Heckel zu Adorf. Hinten drinnen saß der neue Actuarius Longus, wie wir ihn gewöhnlich nannten – sein wirklicher Name gehört nicht in ein Blatt wie die Gartenlaube – eine lange, magere, etwas klapperige Corpsburschenpersönlichkeit, die man inzwischen mit der politischen Untersuchung des Obervoigtlandes betraut hatte, wahrscheinlich als Specialrichter, nachdem der freundliche Amtsverweser versetzt und endlich das Schwurgericht, das letzte Bollwerk freiheitlicher Errungenschaften, beseitigt worden war. An der Seite dieser Justizperson saß in milchkaffeefarbiger Uniform mit blauen silberbetreßten Aufschlägen und blanken Knöpfen, umgeschnalltem Schleppsäbel, einige Pistolen und die unvermeidlichen Handmüffchen (Handschellen) des eisernen Zeitalters in der Tasche, mein alter Bekannter, Adorfs Wachtmeister. (Der Mann hieß Uhlmann, wahrscheinlich ein Seitensprosse der nachmals so berühmt gewordenen Uhlanen.) Die Zeiten hatten sich sichtlich verschlimmert; unter Bedeckung von drei Mann und zwei Pferden, mit Waffen von allen Arten, wurde ich diesmal vom Hause abgeholt. Ich sah die Herren kommen und hätte langsam und bequem den Berg hinauf nach den böhmischen und bairischen Wäldern entfliehen und diesen vierzehnbeinigen Kelch an mir vorüberrasseln lassen können. Ich that es nicht.

Obgleich meine Mutter zum Tode krank darniederlag und mein Vater alle ihm zu Gebote stehende Bürgschaft anbot, mußte ich mit, „im Bunde der Vierte“, und so ging es

Durch die Wälder, durch die Auen
Flott im Morgenstrahl dahin.

Doch wurde ich am Abend desselben Tages gegen fünfzehnhundert Thaler Bürgschaft, die dem Actuarius Longus am Morgen wahrscheinlich nicht sicher genug waren, auf so lange entlassen, bis meine Mutter wieder gesund war, dabei aber dem Dorfrichter, einem alten lieben Manne, noch eigens zu genauer Ueberwachung und täglicher Visitation anempfohlen, was der Alte auch richtig bei einem guten Glase Bier regelmäßig und scherzend vollzog.

Mit den Fackel- und Laternenzügen und den Heimholungsmusiken des achtundvierziger Jahres war es nun freilich vorüber. Zeit und Leute waren traurig geworden. Dagegen schaukelte ich mich während dieser letzten Rückreise in’s heimathliche Haus stolz in unserer Landkutsche zwischen zwei frischen Sachsenkindern mit dunklen Haaren, hellem Sinn und blitzenden Augen, die mich als Hochverräther gar nicht so entsetzlich fürchteten. Die Eine ruht schon längst tief unter der Erde; die Andere freut sich weit unten in pommerschen Landen eines glücklichen Lebens und der wiedergekehrten deutschen Kraft und Einheit. Ich sah diese beiden freundlichen Begleiterinnen nicht wieder*[1]; denn bald darauf schloß sich das Gefängnißthor hinter mir auf’s Neue für viele Monate, die Pforte meiner Heimath für dreiundzwanzig Jahre.

Mit der gemüthlichen Wechselstube war es nun auch aus. Es ging diesmal zwei Treppen hoch und später, als die Reaction wie ein rauher Nordostwind immer schneidender durch’s Land pfiff, immer mehr Maikäfer davonsurrten und immer strengere Maßregeln decretirt wurden, da ging’s gar drei Treppen hoch in die Gefängnisse für gemeine Verbrecher. Es war von wegen der „Gleichheit.“ Seit 1849 war ich sonach bedeutend im Werthe gestiegen, vom Parterre bis unter’s Dach.

Jetzt saß ich also drin, mit mir nur noch Advocat Blankmeister. Obgleich Derselbe Mitglied der Zweiten Kammer und früher Bürgermeister von Mühltroff geworden war, campirte er dennoch unter mir. Ein höchst bedenklicher Vorrang! Ich könnte hier nun viel und Vieles erzählen von Gedanken, Gedichten, Gesängen, Briefwechsel und Telegraphenspiel nach außen und innen; dieses Capitel ist aber schon so allseitig erschöpft, daß ich nur einzelne einschneidende Erlebnisse mitzutheilen gedenke.

Ich hielt eine Zeitung, die ich meinem Schicksalsgenossen sendete und dann von ihm zurückempfing. Mit diesen Zeitungen trugen die Beamten unsere Correspondenzen emsig hin und her, in Zeichen, die kein Anderer verstand. Am Tage wurde, so lange die Untersuchung währte, Jeder einzeln in den Garten auf die Weide geführt, wie wir es nannten. Den Abend brachten wir dann und wann bei Wachtmeisters zu. Hier hätten wir öfter Gelegenheit zum Entspringen gehabt; allein ich wollte, wenn ich einmal den Entschluß zur Flucht fassen würde, des Wachtmeisters Familie, die stets zuvorkommend und freundlich gegen uns war, unbetheiligt lassen.

Die Flucht eines Gefangenen, der wegen Dieberei um seine Freiheit gekommen war und von dem der Wachtmeister zu sagen pflegte: „Es kam ’raus; er kam ’nein,“ hatte für mich und Blankmeister die scheinbar üble Folge, daß wir nicht mehr als die Löwen des Tages nach der Stadt in’s Verhör geführt wurden. Auch kamen wir von nun an monatelang nicht mehr auf die Weide. Es wurde die ehedem so gemüthliche Wechselstube in’s Verhörlocal umgewandelt, von uns scherzweise die Folterkammer betitelt. Just dies hatte aber für unsere künftige Flucht sehr glückliche Folgen. Blankmeister saß gerade über der Folterkammer. Dazu kam, daß die ganze große Frohnveste neu und, weil für die Zwecke eines Untersuchungsgefängnisses bestimmt, so leicht und leishörig gebaut war, wie eine Windmühle.

Wenn Blankmeister sein Ohr zur Diele neigte, konnte er des Herrn Criminalactuars zürnende oder wohlmeinende Stimme ganz prächtig vernehmen. Ebenso das gewohnheitsgetreue Ja der drei Gerichtsschöppen, das uns immer lebhaft an das Ende der Pfeffel’schen Pfarrwahl erinnerte, wo die oppositionslustigen Bauern, gehörig angedonnert, in den tragikomischen Chorus ausbrechen: „Ach ja! Herr Amtmann, ja!“ Diese drei Zeugen bei dem alten Gerichtsverfahren bildeten das fünfte, sechste und siebente Rad am ohnehin schon allzu vielrädrigen Justizkarren. Sie hatten nur eine Verpflichtung, nämlich die „der süßen Gewohnheit des Daseins“, um mit Egmont zu reden. Das Gericht erkor sich diese Wache selbst und traf stets die rechten Männer, die nur dann den Kopf erheblich schüttelten, wenn ihnen Gott Morpheus schelmisch in den Nacken oder eine ungezogene Sommerfliege auf die Nase gerieth. Schließlich unterschrieben sie den Leviathan des Actenstoßes ungelesen, wie ihn auch der Gefangene nach angehörtem Vorlesen unterschreiben mußte. Was konnte Alles dazwischen liegen, wenn der Verhörrichter wollte! Und daß Viele wollten, werden Viele erfahren haben. Briefe wurden mir nur gezeigt; ich sollte anerkennen, daß dies meine Handschrift. That ich es, so war ich übel daran, da man in jener Zeit an Freunde viel Ueberschwängliches geschrieben hatte; that ich es nicht, so hätte ich meine unverkennbare Handschrift geleugnet, wie Alles. So wurde in jenen traurigen Tagen oft nach der Schablone inquirirt, und ich hatte keinen andern Genuß, als dabei die drei Zionswächter zu beobachten. Sie waren, nebenbei bemerkt, im bürgerlichen Leben wohlwollende Männer, und meine Bemerkungen gelten nicht ihren vielleicht längst begrabenen Persönlichkeiten, sondern der lächerlichen Einrichtung überhaupt, zumal man von Seiten der Rückwärtsmänner im deutschen Reiche auf’s Neue an Untergrabung der Schwurgerichte arbeitet und an deren Stelle ein Zwitterding einschieben möchte, dessen Name schon (Schöppengericht) alle Humoristen und Satiriker der Gegenwart zu brennenden Lobgesängen begeistern muß. Wir Männer von 1849 haben bitter erfahren, was die Unterdrückung der Schwurgerichte zu bedeuten hat. Man nehme sich ein ernstes Beispiel daran!

Blankmeister telegraphirte mir das im Verhörzimmer Gehörte sofort durch Pochen an die Wand herauf, das ich deutlich vernahm, obgleich ich einen Stock höher und nicht direct über ihm logirte.


  1. * Vor zwei Jahren, als ich einige Artikel in die Gartenlaube schrieb, wurde mir die große Freude zu Theil, von der noch lebenden Seele ein freundliches Lebenszeichen durch dieses Blatt zu erhalten.
    D. V.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_016.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)