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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Originalzeichnung von Heinrich Max in München.


 Zweifel.

„Für einen armen Sünder
Versage nicht ein kurz Gebet!“
So spricht die morsche Tafel,
Die hart am Waldeswege steht.

Ich thu’ es gern; doch leise
Kommt mir ein Zweifel in den Sinn:
Kann das Gebet auch helfen
Von einer armen Sünderin?

 H.




wandte sich hastig nach dem nächsten Fenster. Da stand der kleine Leo, regungslos und starren Auges die neue Mama musternd; die reizende Knabengestalt lehnte nachlässig an dem riesigen Körper eines Leonberger Hundes, und die Rechte mit der berühmten Gerte hing über den Rücken des Thieres hinab – es war eine Gruppe, wie für den Pinsel oder Meißel hingestellt.

„Leo, begrüße die liebe Mama,“ befahl Mainau in unverkennbar aufgeregtem Tone. Liane wartete nicht, bis der Knabe zu ihr kam. In dieser entsetzlichen Umgebung leuchtete ihr das schöne Kindergesicht, ungeachtet seines feindselig trotzigen Blickes, wie ein tröstender Lichtschein entgegen. Sie trat rasch hinüber. Das zarte Antlitz mit dem blumenweißen Teint bog sich über den Knaben und ein würziger Athem berührte seine Lippen.

„Willst Du mich ein wenig lieb haben, Leo?“ flüsterte sie – das klang flehend, und in ihrer Stimme klopfte es wie leises Schluchzen. Die großen Augen des Kindes verloren den festen Blick. Aengstlich erstaunt fuhren sie über das Gesicht der neuen Mutter hin – da fiel polternd die Gerte zur Erde, und plötzlich schlangen sich zwei Kinderarme festpressend um den Nacken der jungen Frau.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_041.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)