Seite:Die Gartenlaube (1874) 043.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

von unbekannter Hand gemaltes Molly-Bild, das sich in Bürger’s Nachlaß befand und nach seinem Tode in den Besitz seiner Tochter Marianne kam, ist, wie die Vergleichung mit dem mir vorliegenden Original erweist, durch die Kunstanstalt von A. H. Payne in Reudnitz bei Leipzig nicht allzu glücklich nachgebildet worden; namentlich der Ausdruck des schöngeformten Mundes ist durch eine seltsame Zuspitzung der Oberlippe unangenehm entstellt.[1]

Das naturwidrige Verhältniß einer zwischen den Schwestern getheilten Liebe konnte nicht von Bestand sein. Im Sommer 1782 entriß sich Auguste den Armen des Geliebten, um zunächst bei seiner in Langendorf verheiratheten Schwester Friederike, der Mutter des Dichters Müllner, zu verweilen, und kehrte erst nach dem Tode Dorettens als angetraute Gemahlin in sein Haus zurück. Der Verkehr zwischen den Gatten gestaltete sich nach ihrem Fortgange um Vieles erfreulicher als in den verflossenen Jahren; Bürger begegnete der schwer gekränkten Frau mit warmer Herzlichkeit, und Dorette sah aufathmend einer besseren Zukunft entgegen.

Rührend klingt der innige Weihnachtsbrief, den sie dem Bruder sendet:

„Ich seze mich heute früh nieder, Dir einige Stunden dieses Tages zu widmen. Das Wetter ist so erschrecklich, daß man nicht denken darf in die Kirche zu kommen. Doch die Unterhaltung mit meinem Bruder wird eben so süße, so heilige Empfindungen in mir erregen, wie das was mir von dem heutigen Feste gepredigt würde. Froh sein und fröliche Geschöpfe zu machen, ist nach meinem Gefühl die innigste Dankbarkeit für die Güte unsers Gottes. Lieber George, heute mögte ich beinah Deinen Ausspruch wiederlegen, wo Du sagst, ‚es sey unser Loos Unglücklich und traurig zu sein! etc.‘ – ich fühle in diesen Augenblicken, daß es doch Gefühle giebt, die alles Elend überwiegen, und uns zu seeligen Geschöpfen machen. Du wirst lachen, George, wenn Du nun eigentlich die Ursache erfährst, die mich so froh und heiter macht, wirst sagen, daß es gar kein Vorzug sei, sich auf diese Art heitre Laune zu verschaffen, weil es nichts auserordentliches sei, daß ein Geschöpf seine Pflicht erfülle? Recht, lieber George, ich habe auch nichts weiter gethan, aber herzliche innige Freude durchglüht mich, daß Gott mir die Wonne schenkte, die Pflichten der Wohlthätigkeit ausüben zu können … O George, so ein Gesicht welches mir mit dankbarer Freude entgegen lächelt – bei Gott, der gnädigste Blick des größten Monarchen würde mir nicht so angenehm sein! Könnte ich mir den nicht auch durch weniger Gute und Edle Mittel erwerben? – Du wirst lachen über mich, George, daß mich die Austheilung einiger Weihnachtsgeschenke an unsere Leute so frohes Muths gemacht hat: – und doch ists nicht anders. Der Dank, welcher aus ihren Seelen in die meinige überging, und hier innige Anbetung gegen Gott wurde, der mir die Mittel gab, Freude verbreiten zu können, hat mich mit diesen Leben auf lange wieder ausgesönt … Uebrigens jage nur immerhin alle dunklen Grillen zum Henker, daß wir nun gerade just zum Unglück sollten geboren sein, ich protestire öffentlich dawider. Besonders in meiner heutigen Laune. Es wird Dir schon gut genug gehn, George, Du bist ein guter Junge, und sieh nur, ich bin ja auch seit einiger Zeit glücklicher, Du weist, wie wenig ich sonst auf den Sinn dieses Worts Anspruch machen konnte! ich freue mich des herzlich, ob ich gleich fürs Künftige vom Schicksal keinen Freibrief erhalten habe. … Dank noch für Deine Sorge um meine Augen. Gott sei Dank, noch habe ich sie. Dies ist Beweis davon. Auch glänzen sie gleich 2 hellen Sternlein des Himmels, und lächeln dem Bruder meines Herzens hier Liebe und Dank für seine Liebe und die Versicherung ewiger Treue von seiner

Dorette Bürger.“     

Nicht lange nachher erlag sie derselben auszehrenden Krankheit, an welcher auch ihr Bruder Karl gestorben war. Zuvor gab sie noch einer Tochter das Leben, einem schwächlichen Kinde, das ihr bald in die Gruft folgte. Sie litt lange und schwer, auf’s Treueste von ihrem Gatten und ihrer Stiefschwester Wilhelmine gepflegt, und schied ungern aus der Welt, die ihr doch so wenig ungetrübter Freuden bescheert hatte.

„Die ganze Zeit her,“ schrieb Bürger ihrem Bruder in einem ausführlichen Berichte über ihre Krankheit, „hat die arme Leidende dennoch die durstigste Liebe zum Leben geäußert; aber seit einigen Tagen scheint sie das Herannahen des Todes zu fühlen und sich mehr darein zu ergeben. – Gott mache alles nach seiner Barmherzigkeit! Ich weiß, er wird es gut machen.“

Wir eilen zum Ende; denn der Abschluß dieser ergreifenden Liebestragödie ist bekannt. Bekannt ist, wie Bürger, der sein „Hungeramt“ niedergelegt und die Laufbahn eines Universitätslehrers in Göttingen ergriffen hatte, um endlich vor dem Altare mit der „Ganzvermählten seiner Seele“ verbunden ward, wie sein hinwelkendes Leben unter dem Sonnenblicke ihres Lächelns „aufzugrünen und zu blühen“ begann, wie sich Molly-Auguste durch Fleiß und Sparsamkeit auch der Verbesserung seiner zerrütteten Finanzen befliß, und wie nach kurzem Wonnetraume ein hektisches Fieber sie jählings entraffte, nachdem sie ihm zu dem Sohne, den sie früher geboren, fünfzehn Tage vor ihrem Tode noch eine Tochter geschenkt hatte. Nur das sei erwähnt, daß George Leonhart, der in diesen Trauertagen im Hause seines Schwagers verweilte und neben dem treuen Schwager, Dr. Althof, am Sterbelager seiner Schwester stand, mit den Worten: „Sie hat vollendet!“ in das Vorzimmer trat, um dem wortlos zusammenbrechenden Bürger und seiner Tochter Marianne, welcher dieser Moment stets unvergeßlich blieb, das entsetzliche Geschick zu verkünden. Vor mir liegt, während ich diese Erinnerungen aufzeichne, eine seidenweiche, lichtblonde Locke, die George Leonhart, wie die von ihm herstammende Inschrift der vergilbten Papierhülle bezeugt, am Todestage Augustens von ihrem Haupte abgeschnitten. Sie ist zu einem Kranze geflochten und mit einer verblichenen rosaseidenen Schleife befestigt. – –

Sollen wie noch des unseligen Nachspiels jener dritten Ehe gedenken, zu der sich Bürger durch das anscheinend so treuherzige Gedicht des „Schwabenmädchens“ verlocken ließ? Ach, er mußte es hart genug büßen, daß er einen Augenblick gewähnt hatte, dieses „Kind der Unnatur“ würde ihm seine „Molly-Adonide“ ersetzen. Er war fortan ein an Leib und Seele gebrochener Mann, den nur die Sorge für seine Kinder zu fieberhaft rastloser Thätigkeit spornte, und dem diese schwere Sorge noch die letzten Stunden verbitterte. Deutsches Dichterelend! Empfing doch der Sänger unsterblicher Lieder, die sein ganzes Volk entzückten, von der hannoverschen Regierung nach zehnjähriger angestrengter Lehrthätigkeit statt des erbetenen bescheidenen Professorengehalts auf seinem Sterbelager kaum den Bettlerpfennig von fünfzig Thalern, um ihn vor dem Hungertode zu schützen!

Ohne die thatkräftige Hülfe des wackeren Althof würde das Schicksal der armen Waisen traurig genug gewesen sein. Er ließ sich die Vormundschaft über dieselben übertragen, suchte für sie durch Verhandlung mit den Gläubigern aus der stark verschuldeten Erbschaftsmasse zu retten, was möglich war, und nahm den Sohn Agathon aus der unglücklichen letzten Ehe zu seinen eigenen Kindern in’s Haus. Der kränkliche, geistig verkrüppelte Knabe starb schon in seinem elften Lebensjahre. – Marianne, die Tochter Dorettens, kam zu der jüngeren Schwester Bürger’s in Langendorf bei Weißenfels, welche auch den Sohn Augustens, Emil, erzog. Später folgte sie einer Einladung der ältesten Schwester ihres Vaters, der Wittwe des Pfarrers Oesfeld, nach Waldenburg, und blieb nach dem Ableben derselben bei ihren Kindern und Enkeln, in deren Armen sie hochbetagt und unvermählt am 11. November 1862 zu Remse entschlief.

Die Tochter Molly’s, welche gleich ihrer Mutter Auguste hieß, wurde bei der Elderhorst’schen Familie in Bissendorf erzogen und vermählte sich dort mit dem Amtsassessor Mühlenfeld, der 1813 in Winsen an der Luhe als Friedensrichter starb. Sie hatte das trübe Geschick, ihren Gatten, einen erwachsenen Sohn, der als Hauptmann im Geniecorps zu Hannover stand, und eine blühende Tochter, die sich eben verlobt hatte, jählings durch Schlaganfälle in’s Grab sinken zu sehen. Sie selber starb zu Celle am 11. November 1847. Zwei ihrer Söhne sind noch am Leben, der älteste als Obergerichtsdirector zu Nienburg an der Weser, der jüngere als Apotheker zu Hoya.

  1. Das im Jahre 1855 von Herrn Rudolph Neuburg in Göttingen veröffentlichte angebliche Molly-Bild ist von der damals noch lebenden Tochter des Dichters sofort als das Portrait der Stiefschwester Augustens, Franziska Strecker, erkannt und dem Herausgeber als solches bezeichnet worden. Der Umstand, daß keine öffentliche Anzeige dem Publicum Nachricht von der zu spät ermittelten Unechtheit dieses Bildes gab, mag es erklären, daß eine Copie desselben auch in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ vom 13. März 1858 als „Bürger’s Molly“ erschien.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_043.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)