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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

die Hauptstufen der Entwickelung, welche die Anlage des höchsten Naturwesens, welches wir kennen, durchlaufen muß, um die ihm eigene vollkommene Gestalt zu erlangen.

Zuerst erscheint sie als ein kaum mit bloßem Auge wahrnehmbares Bläschen, welches durch kein Mittel der heutigen Wissenschaft von dem Keime irgend eines anderen höheren oder niederen Thieres zu unterscheiden ist. Dieses Bläschen theilt sich in zwei, diese in vier Zellen und so fort, bis die Anlage eines Wirbelthieres deutlich wird. Ob es aber ein Fisch, ein Frosch, ein Vogel oder ein Säugethier werden will, ist auf dieser Stufe nicht zu unterscheiden; der erste Anschein würde für einen Fisch sprechen, denn es sind vier Kiemenbogen in der Nähe des Halses und die deutliche Anlage einer Schwimmblase vorhanden. Aber die Kiemen bilden sich zurück und aus der Schwimmblase wird eine Lunge; statt der Flossen haben sich vier deutliche fünffach getheilte Extremitäten gebildet. Da die Glieder derselben durch Schwimmhäute verbunden sind, so könnten wir, abgesehen von andern Gründen, auf dieser Stufe schließen, einen jungen Frosch oder doch wenigstens einen Sumpfvogel vor uns zu haben. Jetzt wird die Aehnlichkeit mit einem kleinen Hunde oder auch sonst einem Säugethier immer größer. Es ist ein deutliches Schwänzchen vorhanden, und der ganze Leib mit Ausnahme der Hand- und Fußflächen wird von einem dichten Wollhaar überzogen, welches an der Mundpartie am dichtesten zu stehen pflegt. Aber siehe da, auch Schwänzchen und Haar verschwinden wieder, und aus den niedern Anfängen hat sich endlich das anmaßende Wesen entwickelt, welches von alledem nichts wissen will.

Andrian Jeftichew.
Nach einer Photographie.

Angesichts dieses Bildungsprocesses, der gewiß in der Schnelligkeit seines Vollzugs tausend Mal wunderbarer ist, als jener von den Ungläubigen als undenkbar bezeichnete Umwandlungsproceß, durch welchen sich nach Darwin im Laufe der Zeiten die niederen Naturwesen zu höheren entwickelt haben sollen, ist es unbegreiflich, daß es noch Menschen geben kann, welche der Descendenz-Theorie Unwahrscheinlichkeit vorwerfen.

Die Erscheinungsformen des Atavismus, wie sie namentlich in dem Zurückschlagen der Hausthiere und Culturpflanzen auf ihre Stammeltern in unzähligen Fällen beobachtet sind, erklären sich aus dem entwickelungsgeschichtlichen Grundgesetze – aber auch nur mit dessen Hülfe – ziemlich einfach. Wenn man sich vorstellt, daß jedes einzelne Pflanzen- oder Thierwesen sich wieder durch den Zustand seiner Ahnen selbst hindurcharbeiten, und gleichsam die ihm voraufgegangenen Formen in seiner eigenen Entwickelung kurz – das heißt nur den allgemeinsten Umrissen nach – wieder durchmachen muß, so ist es nicht schwer einzusehen, daß es gelegentlich wenigstens nach der einen oder anderen Richtung auf einer älteren Stufe stehen bleiben kann, wenn auch nur auf einer solchen, die seinem eigentlichen Entwickelungsziele, in welchem es selbstständig lebensfähig wird, nicht allzu fern steht. Man begreift aber auch weiter, daß man aus den hierbei zu Tage tretenden Erscheinungen Rückschlüsse auf die Vorfahren des betreffenden Wesens wird machen können. Von Pferden zum Beispiel, die sich durch nichts von ihres Gleichen unterscheiden, hat man an den verschiedensten Orten zebraartig gestreifte Fohlen fallen sehen; man schließt daraus, daß die Stammform unseres Pferdes ein zebraartig gestreiftes Fell gehabt haben möge. Beim Menschen hat man ähnliche Schlüsse aus entsprechenden Beobachtungen gezogen.

Zuweilen erscheinen bei einzelnen Individuen vorspringende Eckzähne mit Spuren eines Diastema daneben, das heißt jenes offenen Raumes zur Aufnahme des Eckzahnes der anderen Kinnlade beim Schließen des Mundes. Woran soll man dabei anders denken, als daß solche Waffen gewissen Ataven des Menschen eigen und nöthig waren, und nun gelegentlich beim Enkel entstellend wieder erscheinen, um ihn daran zu erinnern, woher er gekommen ist? Aus theoretischen Erwägungen, wie aus Beobachtungen kann man, wie schon angedeutet, erkennen, daß ein Rückschlagen nur auf die nächsten Vorfahren vorkommen kann und also bei dem Menschen mit seiner fortschreitenden Entwickelung immer seltener in das ausgesprochen thierische Bereich fallen wird.

Vielleicht sind die Waldmenschen früher häufiger aufgetreten, und wer möchte nach den ausgezeichneten Beispielen derselben, die man in unseren Tagen gesehen, die alten Berichte von gänzlich behaarten Völkerstämmen unbedingt in’s Fabelreich verweisen? Dem sei nun aber, wie ihm wolle, die allgemeine Behaarung der Waldmenschen lehrt eigentlich dem Embryologen nichts Neues, denn jeder Mann und sogar jede Frau ist in dieser Richtung einmal gründlich Waldmensch gewesen, aber im regelmäßigen Verlaufe bildet sich der allgemeine Pelz zu einem kaum sichtbaren Flaume zurück. Desto lehrreicher ist die Zahnarmuth der Waldmenschen. Sie scheint darauf hinzudeuten, daß der Mensch zu seinen nicht allzu entfernten Vorfahren einen sogenannten Edentaten gehabt, und die erst in neuester Zeit erkannte Verwandtschaft der Lemuren oder Halbaffen mit jener zahnarmen Thierclasse wirft einiges Licht auf die Richtung, in welcher wir den Stammbaum des Menschengeschlechts rückwärts zu verfolgen haben. Und wie sich zuletzt alle Wege der Wissenschaft begegnen, so ist aus anderen Gründen schon längst die Urheimath des Menschen mit derjenigen der Lemuren auf einen jetzt vom Meere bedeckten Welttheil zwischen Vorderindien und Afrika verlegt worden. Es ist mehr als ein Scherz, in unserem Andrian ein vererbtes Abbild eines unserer Ururahnen zu erkennen, und schließlich wird man finden, daß er so ganz und gar abschreckend nicht aussieht, vielmehr einen höchst gemüthlichen Zug um den Mund besitzt. Wie mit diesem Portrait, wird sich die Menschheit mit der Abstammungslehre nach und nach befreunden; wahrscheinlich werden schon nach hundert Jahren unsere Nachkommen fragen, wie es denn nur möglich gewesen ist, daß diese so einfache und einleuchtende Theorie nicht mit einem allgemeinen Jubelgeschrei bei ihrem Auftreten begrüßt worden ist. Aber die Theorie von der Erdbewegung um die Sonne ist auch höchst einfach, und – ich kann mich nicht recht besinnen – ist sie nicht auch einigem Widerspruch bei Gelehrten und Ungelehrten begegnet?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_061.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)