Seite:Die Gartenlaube (1874) 062.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Aus meinem Gefängniß- und Fluchtleben.


Auch eine Jubiläums-Erinnerung von Fritz Rödiger.


(Fortsetzung.)


Nach dem Tage der Sonnenfinsterniß stand selbstverständlich Jedermann spät auf; so auch Amtmanns, Actuariusens, Kanzlistens und Copistens, Wachtmeisters und Hülfsgeisters. Ja, unser zarter Freund, der Actuarius Longus, soll in jenen Tagen sogar an den Folgen eines unfreiwilligen Falles in die Elster bedenklich erkrankt gewesen sein. Als uns nun unser guter Rabe das übliche Morgenfutter an den Thürbarren zu bringen gedachte, hatten die beiden leichtsinnigen Vögel, die gestern Abend noch so fest saßen, ihre Käfige ohne alle Aufkündigung verlassen. Statt ihrer – ein buntes Gemengsel von Ziegeln, Holz, Kohlen, Asche, Kalk, Ofenthüren, zerbrochenen Thürlatten, Besen, wie in einem verlassenen Pfahlbau! Die beiden Kamine von Nr. 12 und 13 starrten dem starren Auge des treuen Wachtmeisters entgegen wie zwei ausgebrannte Krater eines Vulcans, die sein ganzes Glück, all seinen Stolz und all seine Freude auf immerdar verschlungen hatten.

„Hört’ ich das Pförtchen nicht gehen?
Hat nicht der Riegel geknarrt?“

Nichts von alle Dem. Auch keine Spur mehr als die zersplitterte Thüre nach dem Oberboden! Kein Seil? kein Dietrich? kein Brecheisen? Nichts! nichts!

Kurz darauf war das ganze Städtchen alarmirt. Zuerst vernahmen die Officiellen die Schreckenskunde. „Sie sind fort!“ Dann brandete die entsetzliche Nachricht an das Ohr der Officiösen: „Die Kerle sind fort!“ Hierauf aber jubelte es durch alle Gassen, in allen Häusern, auf allen Wegen und Stegen, wo Freunde sich begegneten. „Gottlob! sie sind fort!“

Gleichzeitig durchflogen Beamtencolonnen und Depeschen das ganze Land, und in Adorf selbst wurden die Häuser aller Verdächtigen vom Giebel bis zum Keller durchsucht und weder das Lager kranker Frauen noch die Hutschachteln unschuldiger Handelshäuser waren sicher vor den aufgeregten Argusaugen der Hermandad.

Die noch gegen Caution entlassenen „Maikäfer“ mußten sofort die vacant gewordenen Plätze für uns einnehmen, und sie summten und brummten zornschnaubende Reden herab auf das Pflaster gegen die entflohenen Collegen und Rädelsführer. Die Verzweiflung, uns, die Verführer, fort, sich, die Verführten, in Banden zu wissen, hatte ihnen für den Augenblick den Kopf verdreht. Kurz, wurde gestern zu Ehren der Sonnenverschleierung ein halber Tag den Göttern Bacchus und Bummelius geopfert, so gab es heute unter den Demokraten des Obervoigtlandes einen ganzen Tag „Ausflugfeier“. Auch hob eine gewaltige Untersuchung wegen Fluchtbegünstigung sofort und allen Ernstes an, welcher aber einzig mein frühester Jugendfreund, Schneidermeister Franz in Adorf, zum Opfer fiel, der wegen der Unthat, mir bei einem früheren Fluchtgelüste eine famose Eisensäge zugesteckt zu haben, sechs oder acht Wochen lang in der so gastlichen Frohnveste Aufenthalt zu nehmen gezwungen wurde.

Draußen aber ging es an jenem 29. Julius ganz furibund zu. Wie ich vorauscalculirt hatte, wurde die böhmische und baierische Grenze mit wahren Perlen der Grenzaufseherkunde besetzt, alle gutgesinnten Waldheger, Polizeidiener, Dorfwirthe, Straßenreiter und Dorfrichter mußten „auf Deck“. Wiederfangungsnachrichten durchkreuzten die Luft, und bis nach Friedrichshafen und Lindau hinauf, an die wohlbekannten Ausladungshäfen jener Zeit am schwäbischen Meer, gingen Fahndungsagenten ab; ja der ehedem so gemüthliche Wachtmeister bedauerte unsere Abreise so sehr, daß er einige hundert Thaler auf unsere Köpfe aussetzte. Wohl mehr Blitzableiter für ihn, als Blitz für uns.

In dem bömischen Städtchen Asch, dessen Turnlehrer uns heraus geholt haben sollte und sich der That vielfach selbst rühmte, in dem bairischen Städtchen Selb und nach vielen andern Himmelsgegenden hin wurde gesucht, allein, wie wir wissen, auf falscher Fährte.

Um Mittag herum wälzte sich endlich auch eine Untersuchungscolonne gegen meinen Wohnort, gegen das wunderschöne, wie ein heller Maimorgen am südlichen Abhange des Capellenberges hängende Dörfchen Schönberg in der äußersten Südspitze des königlichen Sachsenreiches. Eben wollten die Meinigen daheim, nach alter Väter Sitte, zu Tische sitzen, als ein Actuarius (jedoch nicht mein viel gerühmter Leibcriminalist!), merkwürdiger Weise gerade jener, der schon im Jahre 1848 zu Voigtsberg mein Revolutionsfieber in erste Behandlung genommen hatte, feierlichst hineintrat. Hinter ihm der gute Wachtmeister, der aber heute, nach seinem Lieblingssprüchworte, nicht „lachen mußte“, trotzdem er’s „nicht wußte“. Eine halbe Compagnie Gerichtsschöppen, Richter und Oberrichter durften nicht fehlen. Meine Mutter hatte sich in jenen Zeitläufen an die Haussuchungen gewöhnt. Unberührt von der etwas unbefangenen Situation ihrer Gäste, lud sie alle scherzweise zum Mittagsessen ein. Da schüttelte der Actuar trauernd das Haupt und sprach mit hohler Stimme: „Ihr Sohn ist entsprungen.“

Das überraschte meine alte um mich schwer besorgte Mutter so, daß sie Messer und Gabeln fallen ließ, und mit dem Rufe, der das ganze Haus alarmirte: „Der Fritz ist fort“ stürzte sie zur Thür hinaus, über den Hof, in die nahe Dorfkirche, um dort am Altare ein heißes Dankgebet zum Herrn der Heerschaaren emporzusenden für meine aufgegebene Rettung.

Die Gerichtsbeamten ließen sie ruhig gewähren, und als mein Vater bald nach Hause kam, begann die Hausdurchsuchung. Der Herr Actuarius begriff wohl, daß der Fritz nicht so einfältig war, sich in’s väterliche Haus zu setzen, dennoch wurde jedes Winkelchen (das sie fanden) pflichtgetreu durchstöbert. Die Arbeit muß gethan werden, dazu ist sie da.

Von all den officiellen und nicht officiellen Pfiffici vermuthete, ganz nach meiner Berechnung, kein Einziger unsern wirklichen Fluchtpfad. Erst nach vierzehn Tagen erfuhr man aus einem „natürlich“ aufgefangenen, das heißt von der Post ausgelieferten Briefe eines unvorsichtigen Freundes, bei dem wir logirt hatten, die Gegend, in welcher wir waren. Kein Einziger glaubte auch an unsere Flucht, wie sie sich wirklich einfach zugetragen. Erst nachdem ich aus der Schweiz dieselbe heimgeschrieben, und mein Brief überall sehr rasch bekannt geworden war, mußte sie ein kühner Kaminfegergehülfe für einen blanken Thaler nachexerciren, und erst als dieser kleine Waghals uns richtig nachausgebrochen war, beruhigte sich Mutter Justitia einigermaßen und stellte die Jagd auf Fluchtgehülfen allmählich ein.

Noch heute glauben manche Bewohner jener Gegend – wie die Franzosen von 1870 – nicht die Kraft habe gesiegt, sondern der Verrath, und der Verdacht heftete sich leider auch an die Familie des alten Wachtmeisters, was mir recht in der Seele leid that. Besagte Familie behandelte uns recht freundlich, aber von einer Pflichtverletzung konnte bei Uhlmann’s strengem amtlichem Pflichtgefühl und seiner starken Familie nicht die Rede sein. Diese Erklärung bin ich dem Manne im Grabe, nach dreiundzwanzig Jahren und unter dermalen ganz ungefährlichen Verhältnissen, zu geben schuldig. –

Es war Morgens gegen drei Uhr, als uns die Kühle aus den „Waldflaumen“ aufjagte. Gerade etwa vierundzwanzig Stunden nach unserm Ausbruch. Schon belebte sich die Straße; Krämer, nach Gespräch und Körben zu urtheilen, suchten einen Markt;

Denn hier war keine Heimath! Hier ging
Der sorgenvolle Kaufmann und der leicht
Geschürzte … Flüchtling.

Ich wußte nicht zu fern eine einsame Waldschenke. Diese Aussicht war für uns romantisch und praktisch zugleich. Wir sehnten uns nach etwas Wärmerem als Waldeshauch. Bald standen wir vor der niedrigen Pforte dieser sehr bescheidenen Osteria des mittleren Voigtlandes. Wir klopften leise. Eine nicht mehr ganz im Flügelkleide rosiger Jugend sich befindende Walddame, barfuß, im leichteren Nachtgewande, als die schwere Zeit erlaubte, ein wenig schiefwinkelig gebaut, die Haare etwas morgenlich unwirsch, öffnete die Pforte. Statt zu brummen, wie wir nach dem ersten Anschauungsunterricht erwartet hatten, war das Mütterchen äußerst artig. Es lud uns zuvorkommend

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_062.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)