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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„in die Stube“ ein, und uns erging es, wie es so manchmal geht im Menschenleben; ein allzu schlichter Band umfing ein freundlich Buch, an das man gern denkt sein Lebtag.

„Ihr werdet zum Markt wollen?“ eröffnete sie das Gespräch.

„Ja, ja, Mutter? Wir kommen von Schöneck und sind schon die halbe Nacht auf dem Wege –“

„So, so Weber! Ist ein Glas Branntwein gefällig?“

„Ein Kaffee wär’ uns lieber!“

„Je nun, den könnt Ihr auf der Stelle haben. Geht gar nicht lang’!“ sagte sie und verschwand im dunklen Raum der Küche.

In kaum fünfzehn Minuten brachte uns die „Frau Wirthin“ wirklich einen landesüblichen Mocca mit Butter, Brod und Handkäse, wie ihn der stolzeste Fuhrmann, alten Datums, Land auf Land ab, nicht stattlicher hätte verlangen können,

„in Anbetracht der Stunde und des Zweckes.“

Hungrige Husaren auf Commissariatseilvormärschen, die vierundzwanzig Stunden lang im Sattel standen, können nicht toller einhauen, als wir es thaten. „Waldmütterchen“ schaute uns schmunzelnd zu, sichtlich erfreut über die Ehre, die wir ihrer Kochkunst angedeihen ließen. Sie unterbrach uns nur einmal mit der Frage: „Ihr sucht wahrscheinlich Arbeit?“ denn für einen ehrlichen Marktkrämer schien ihr denn doch unser Appetit allzu en gros.

„Ja, Mutter, wir haben unsern alten ‚Schütz‘ quittirt, um uns auf die ‚Walze‘ (Wanderschaft) zu begeben.“

Endlich fragten wir nach der „Schuldigkeit“. Sie lautete auf ganze drei Neugroschen vier Pfennige. In unsern dermaligen Zeitläufen ein wahres Waldmärchen!

Dies war wieder der erste Verkehr mit einem vaterländischen Wirthshaus, mit einer menschlich fühlenden Brust. Heiter und wohlgemuth, von den besten Wünschen der geraden Seele unter gekrümmtem Rücken begleitet, verließen wir die edle Waldschenke, deren Schild ich leider nicht erkannte. Sie heiße „Zur Heimath“.

Auf mir wohlbekannten Wald- und Feldwegen schlugen wir nun die directeste Linie nach Greiz ein, um die Grenzen eines zweiten deutschen Großstaates gelassen zu überschreiten. Nicht lange, und wir huschten zwischen zwei Wärterhäuschen über die bairisch-sächsische Eisenbahn, unter dem Telegraphendraht hinweg, der gestern und heute gewiß etwas Weniges von uns zu erzählen gewußt hatte; dann hinab in das Göltzschthal und hinüber auf den gegen die Residenzstadt vorspringenden Waldhügel, dessen Stirn damals noch das unverkennbare Merkzeichen „höherer“ Gerichtspflege trug, einen sichtlich wohlgepflegten Galgen. So waren wir dem Zuchthaus entsprungen, um am Galgen Anker zu werfen. Da wir es nicht für rathsam hielten, in der Hauptstadt Greiz mit ihren schwarz-roth-goldenen Schlagbäumen und Verbotstafeln am hellen Tage unsern Triumpheinzug zu halten, so wurde das letzte Marienbrod aus der Bergner Pfarre verzehrt und hierauf im warmen duftigen Waldschatten „ein Schläfchen unterm Galgen“ draufgesetzt.

Als es dunkelte, sagten wir unserem Galgenberg fröhlich Adieu und stiegen guter Dinge hinab in die civilisirten Staaten der später noch berühmt gewordenen Carolina.

Kurz wurde die weithin bekannte Hellmund’sche Liqueurfabrik sondirt und hierauf bei Papa Berg, dem damaligen unumschränkten Beherrscher unzähliger geistreicher Fässer, eingefahren – wie der Drache in der Volkssage. Hier, im Hinterhause, besorgt und aufgehoben, genossen wir wieder das erste christmenschliche Nachtessen in der Freiheit. Suppe! Braten! Bier! Herz und Mund ging über und unsere Seelen flammten empor zu einem verzehrenden Hymnus an die Küche der liebenswürdigsten deutschen Hausfrau. – Auch die erste Zeitung kam uns hier in Sicht; es war die gute alte „Leipziger“; an ihrer Brust das urgemüthliche königlich sächsische Wappen, auf ihrem Rücken eine Masse Concursanzeigen, Edictalladungen, Verlobungs-, Geburts-, Todesnachrichten und unsere solennen – – Steckbriefe! – Unsere Freude war groß bei einem Glase echt fürstlichen Schloßbieres, uns von sachverständiger Hand so recht Schwarz auf Weiß abconterfeit zu lesen. Blankmeister’s Bildniß, ebenso bezaubernd schön wie das meinige, ging mir verloren. Das letztere habe ich für die Unsterblichkeit und meine spätesten Nachkommen gerettet. Die „Tante“ aber drückte ich noch einmal zärtlich an’s Herz. Dann lullte sie mich ein in lieblichen Schlummer.

Selbstverständlich interessirt ein größeres Publicum nicht Alles, was den Flüchtlingen damals und heute noch Herz und Erinnerung erfreut, und so werde ich von nun an nur die wichtigeren „Augenblicke“ hervorheben, „wo uns der Weltgeist näher stand als sonst“.

… In kurzer Zeit trug uns ein zweispänniger Fiaker durch die landstädtischen Thore der großherzoglich weimarischen Kreishauptstadt Weida. Das genannte Großherzogthum schwamm damals, wie später und früher, nicht mit in dem dicken Schlammstrome der Reaction. Wir waren in diesem Ländchen ein gut Theil sicherer, als auf jedem anderen Stückchen deutscher Erde. Dazu kam, daß ich von Jena her, burschikosen Angedenkens, eine ziemliche Anzahl Freunde in der „Kümmeltürkei“ besaß. In Weida selbst residirte und regierte einer meiner intimsten Jugend- und Universitätsfreunde, als wohlbestallter und gestrenger Herr Bürgermeister, und so rief ich Blankmeister zu:

„Zu ihm laß mich mit Dir, Geliebter, ziehn!“

Zum Tyrannen von Weida!

Kutsche und Kutscher schwammen wie ein Staubwolkenkomet in’s Greizer Ländel zurück. Wir zogen stolzen Schrittes, wie zwei Spanier, in Weidas Mauern ein. Mitten unter den Vätern der Stadt saß August, der lebensfrohe Kämpe, und sonnte sich in den Strahlen seiner Macht. Ich winkte ihm. Er nahm mich in das Nebenzimmer. Ein flotter Kuß und: „Ich habe Dich erwartet, Junge, laut Steckbrief. Ich kann die Stadtverordnetenversammlung nicht aufheben. Hier der Schlüssel zu meinem Bureau! Dort ruht aus. Ich komme nach.“

Wir besetzten das Bureau und ebenso eilig benutzten wir die schöne Stunde und entnahmen dem ziemlich umfangreichen Paß- und Paßkartenvorrath das Nöthigste. Blankmeister reiste von nun an als simpler Müller und ich als „jebildeter“ Tapetenhändler Fischer. Alles in Ordnung, ohne August’s Mithülfe.

Sobald es tief Abend geworden war und selbst Freund August nicht zu uns sagen durfte: „Herr, bleibe bei uns!“ verließen wir aus naheliegenden Nützlichkeitsgründen auch diese Metropole deutschen Gewerbfleißes selbdritt und hoch auf Schusters Rappen, um auf’s Neue die Nacht, die rabenschwarze Nacht, auf unsere Pfade zu streuen.

Es wurde Vielerlei geplaudert, und wir gedachten einen langen Marsch zu thun; jedoch der Mensch denkt – der Bürgermeister lenkt, und auch in Großebersdorf war das Wirthshaus nicht umsonst an die Straße gebaut, wenigstens nicht für ehemalige Studenten, die heute zum letzten Male miteinander kneipen sollten:

„So zogen die Bursche wohl gegen den Rhein,
Bei einer Frau Wirthin da kehrten sie ein;
Die hatte ein schönes Töchterlein.“

Ja wahrhaftig, die hatte ein schönes Töchterlein, und uns kam die uralte heitere Studentenstrophe in den Sinn:

„Des Landes Töchter an das Herz zu pressen,
Des Dorfes Bier und seine Stärke messen,
Ist praktische Geographie.“

Hier wollten wir nun geographische Studien, wenigstens im Betreff des zweiten Capitels, beginnen, während andere, nicht vom Schicksale so wie wir hinausgerüttelte und ‑geschüttelte Menschenkinder längst schon auf dem Ruheohr lagen. Der Wirthin Töchterlein führte uns auf einen Wink des gestrengen Herrn Bürgermeisters in das matterleuchtete Hinterstübchen; aber so hold und süß auch diese letzte Rose das Voigtlandes dareinsah, so sauer war leider das neue Schenkbier, vermuthlich eine traurige Folge der vorgestrigen Sonnenfinsterniß, so daß uns von solch fürchterlicher Sauertöpferei das Töchterlein selbst besorgt und ernstlich abrieth. Meine beiden Bürgermeister dagegen („Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitte“), die von Alters her einem gespürlichen Tropfen gar nicht abhold waren, ließen sich von dem hübschen Kinde, der Königin Agnes, wie sie sie nannten, einen steifen Grog brauen. Ich blieb, der fortzusetzenden Waldnachtwanderung wegen, beim prosaischen Zuckerwasser und Mädchengeplauder. Die beiden Verfechter der menschlichen Gerechtigkeit geriethen nur allzubald in eine gewaltige Aufregung und seltene Schwerhörigkeit, so daß sie unsere Fahrt so leise und geheimnißvoll behandelten, daß man es deutlich vor den Fenstern hätte vernehmen können, weß Geistes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_063.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)