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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Thätigkeit des Stenographen, namentlich in Bezug auf Hand und Auge, sehr fühlbar werden kann, wenn dieselbe gar zu lange anhält. Und da wir gerade bei den Schwierigkeiten des Berufes sind, so sei noch erwähnt, wie oft, besonders bei größeren Versammlungen und in größeren Räumen, noch allerhand erschwerende Umstände eintreten: leises Reden der Sprecher, undeutliche Aussprache, fremdartiger Dialekt, häufiges Versprechen und Verbessern oder auch offenbare Fehler des Ausdrucks, Störungen, Zwischenrufe und Unterbrechungen sowie Geräusch.

Das Werkzeug des Stenographen ist in der Regel Bleistift, glattes Papier oder Pergament, Alles von der vorzüglichsten Beschaffenheit.[WS 1] Tinte und Feder empfehlen sich schon deshalb nicht für die Zwecke des Stenographirens, weil der ewige Weg vom und zum Tintenfaß viel zu viel Zeit wegnimmt, auch ein unglücklicher Klex leicht ein Wort, ja einen halben Satz der so gedrängten Schrift verdecken könnte. Bei größeren Versammlungen, beim Reichstage, bei Landtagen etc. wird ein stenographisches Bureau von acht, zehn bis zwölf Personen gebildet. Je zwei versehen, der größeren Sicherheit halber, den Dienst gleichzeitig; sie schreiben zusammen einen gewissen, vorher gesetzten Zeitraum hindurch, gewöhnlich zehn bis fünfzehn Minuten, und werden dann pünktlich von den folgenden Beiden abgelöst. Sobald die Ablösung Platz genommen, verlassen Jene den Sitzungssaal und begeben sich in das Uebertragungszimmer, in welchem bereits zwei flotte Dictandoschreiber ihres Winkes gewärtig harren. Die beiden Stenographen theilen Das, was sie soeben niedergeschrieben, in zwei gleiche Hälften, und jeder dictirt die auf ihn treffende Hälfte. Hatten sie zehn Minuten zu stenographiren, so hat also jeder nur das Ergebniß von fünf Minuten in gewöhnliche Schrift umschreiben zu lassen; das nimmt indeß, wenn die betreffenden Redner gerade danach waren, recht wohl dreißig bis vierzig Minuten in Anspruch. Während dieser Zeit arbeiten nun die übrigen Abtheilungen wechselsweise im Sitzungssäle, und wenn die Ersten mit dem Dictiren fertig sind, bleibt ihnen gewöhnlich gar nicht viel Zeit übrig, ehe sie wiederum an die Reihe kommen.

Ist das Bureau stark genug besetzt und geht Alles glatt ab, so kann die Uebertragung der gesammten Verhandlungen einer Sitzung gleich nach Schluß derselben fertig in Currentschrift vorliegen und den betreffenden Rednern zur Durchsicht und etwaigen Verbesserung überreicht werden. Ganz ohne Nachhülfe kann selten eine Rede gedruckt werden, wenn sie auch buchstäblich getreu niedergeschrieben worden ist; es geht den todten, schwarzen Zeichen auf dem Papier so Manches ab, was der lebendigen Rede zu Gebote stand: Ausdruck und Betonung, langsamer Nachdruck und stürmisches Feuer, Blick, Geberde und Bewegung des Sprechers. Es kann eine Stelle, eindringlich gesprochen, sehr wirksam gewesen sein, auf dem Papiere aber blaß verschwimmen. („Der Vortrag macht des Redners Glück!“) Etwas Feilen wird daher in vielen Fällen wohl angebracht sein. Kleinen Unebenheiten oder Versehen, welche in der Hitze der Debatte auch dem geschultesten Redner unterlaufen können, wird der Stenograph schon beim Umdictiren abgeholfen haben – mehr zu thun ist er nicht berechtigt. Desto freier schaltet mancher Sprecher mit seinen Reden, obschon diese, einmal öffentlich erklungen, gar nicht mehr sein alleiniges Eigenthum sind. Namentlich früher kam das ziemlich häufig vor; es geschah zum Beispiel, daß ein Redner ein leidenschaftliches Wort beseitigte, welches ihm den Ordnungsruf des Vorsitzenden zugezogen hatte. Dicht hinterher folgte dann natürlich diese ebenfalls im Stenogramm verzeichnete Zurechtweisung, und der verblüffte Leser suchte vergeblich nach dem Grunde derselben.

Solche elastische Zustände bestehen jetzt wohl nirgends mehr, sonst würde auch für die Stenographie die Möglichkeit aufhören, ihrer schönsten Aufgabe im öffentlichen Dienste gerecht zu werden: Hüterin der Wahrheit zu sein.

Welcher Kunstmittel bedient sich nun der Stenograph? Wie ist seine Schrift beschaffen? Früher hatte so ziemlich jeder einzelne Stenograph sein eigenthümliches Verfahren, so daß Jeder nur seine eigene Schrift lesen konnte, und nur zu oft verließ er sich darauf, das gute Gedächtniß werde das ergänzen, was der Stift bösartig unterschlagen hatte. Das ist jetzt anders. In England, Frankreich, Italien und anderen Ländern, ganz besonders aber in Deutschland, giebt es Systeme, welche den Stenographen in den Stand setzen, das geflügelte Wort in sichtbare Zeichen zu bannen, ohne daß er seinem Gedächtniß etwas bei der Wiedergabe des Geschriebenen zuzumuthen braucht. Auch kann Das, was der Eine geschrieben hat, stets von dem Andern gelesen werden, der das System kennt. Darin liegt zugleich ausgesprochen, daß die Stenographie nicht nur für das Nachschreiben von Reden geeignet ist, daß sie vielmehr auch für jede Verwendung im Geschäftskreis und im Privatleben vollkommen ausreicht und jeden Gebildeten aus den Banden der Currentschrift zu befreien und ihm vorzügliche Dienste zu leisten vermag.

Wir sprachen eben von einem System der Stenographie und kommen damit auf die Qual der Wahl, auf die Reichthumsverlegenheit, welche auch in stenographischer Beziehung obwaltet, und zwar bei den Deutschen ebensowohl wie bei den Völkern anderer Zunge. Wenn wir von jenen Systemen absehen, welche sich nicht auf die Dauer oder noch nicht in hinreichendem Maße Geltung verschaffen konnten, so sind es zwei ganz verschiedene Arten der Kurzschrift, welche alle anderen in den Hintergrund gedrängt haben, die Stenographie von Gabelsberger und die von Stolze, von welchen die letztere sich noch dazu neuerdings in Folge gewisser einschneidender Umgestaltungen in zweierlei Schrift gesondert hat. Thatsache ist, daß beide Systeme, das Gabelsberger’sche wie das Stolze’sche, begeisterte, ja manchmal fanatische Anhänger gefunden und daß tüchtige Vertreter beider Systeme treffliche praktische Arbeiten geliefert haben. Beim deutschen Reichstage arbeiten sechs Stolze’sche und sechs Gabelsberger’sche Stenographen, Stolzeaner und Gabelsbergerianer vereint versehen auch den Dienst beim ungarischen Landtage. Beim österreichische Reichstage, bei den Landtagen von Baiern, Sachsen, Württemberg etc. arbeiten nur Gabelsbergerianer. Gabelsberger’s Schrift hat sich auch – in der Uebertragung auf die betreffenden Sprachen – bei den Versammlungen der Volksvertreter von Dänemark, Schweden, Finnland, Dalmatien, Illyrien, Italien und Griechenland seit Jahren bewährt. Gabelsberger’s System wird zur Zeit von etwa hundertachtzig Vereinen gepflegt, die beiden Stolze’schen Systeme (Alt- und Neu-Stolzisch) haben über hundert Vereine aufzuweisen. Jedes dieser Systeme behauptet das bessere zu sein, während ein drittes, noch wenig in den Vordergrund getretenes, das von Arends in Berlin, sich in ausgeprägter Bescheidenheit als die einzige, wirklich und wahrhaft „rationelle Kurzschrift“ zu bezeichnen beliebt. Es fällt uns nicht ein, an diesem Orte in einen Streit über die Vorzüge der verschiedenen Systeme einzutreten; dazu haben wir stenographische Fachblätter zu Dutzenden.

Gabelsberger’schem wie Stolze’schem (wenigstens Alt-Stolze’schem) Systeme gemeinsam sind folgende Grundzüge:

1) Die Orthographie der Wörter wird dem hochdeutschen Laute gemäß etwas vereinfacht, so jedoch, daß das Wort noch leicht erkennbar bleibt; man schreibt z. B. „Tal“ für „Thal“, „tot“ für „todt“, „di Hare“ für „die Haare“. Schon durch diese Reinigung der Schreibweise von unnützen Zeichen ergiebt sich eine nicht zu verachtende Ersparniß. Aufgabe des Stenographen ist ja nur, schnell zu sein, nicht aber jedem Worte den Stammbaum seiner Herkunft auf das Gesicht zu drücken. Er beachtet daher sogenannte orthographische Unterscheidungen nur da, wo eine Verwechselung zu befürchten wäre, was weit seltener der Fall ist, als ein im Schulzwange ängstlich Gewordener glaubt. Andererseits vermag die Stenographie solche Wörter der Sprache, welche verschieden klingen, aber dennoch in der Currentschrift ganz gleich aussehen, wohl zu unterscheiden (z. B. „modern“ und „modern“, „Gebet“ und „gebet“).

2) Die Buchstaben des stenographischen Alphabets sind äußerst kurz und einfach; zu der gewöhnlichen Schreibschrift verhalten sie sich ungefähr so, wie diese zu der alten ägyptischen Monumentalschrift, oder wie die Ziffern 1888, zu den Zeichen MDCCCLXXXVIII, oder genauer wie die Ziffern 1888 zu den Buchstaben eintausendachthundertachtundachtzig. Die Züge aber, welche die stenographischen Buchstaben bilden, sind nichts Ungewöhnliches; sie finden sich überall in der Currentschrift wieder, und jeder unserer Leser hat schon Millionen stenographischer Buchstaben geschrieben, nur – ohne es zu wissen.

3) Wichtiger als die Einfachheit der Buchstabe ist ihre Verbindungsfähigkeit. Es war eben ein Irrthum fast aller französischen und englischen Kurzschriften, daß sie zu den


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beschagenheit
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_068.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)