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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

der es kennt, auf das Peinlichste vermeidet. Ich entschloß mich daher, dem Petenten Gehör zu geben, und sagte dem Unterbeamten, er könne den Herrn in das Bureau führen.

Gleich darauf stand ein sehr elegant gekleideter Herr vor mir, der mir völlig fremd war. Er hatte einen schwarzen, in der Mitte ausgeschnittenen Bart, graues Haar, etwas eingefallene Wangen, eine auffallend bleiche Gesichtsfarbe und große graue Augen. Sein Benehmen war sehr sicher, gewandt und höflich.

„Was wünschen Sie?“ fragte ich kurz.

„Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Herr Oberpostsecretär,“ redete er mich mit einer leichten Verbeugung an, „daß ich Sie in so vieler Arbeit störe. Es handelt sich nur um ein ganz unbedeutendes Versehen, das ich erst in diesen Tagen zufällig entdeckt habe.“ Er griff in die Tasche und holte einen Zettel heraus. „Sind Sie nicht derselbe Herr, der mir am Sylvesterabend diesen Posteinlieferungsschein ertheilt hat?“

Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Schein. Da er von meiner Hand herrührte, bejahte ich seine Frage und erkundigte mich, worin denn der Irrthum stecke.

„Im Datum. Ich habe Ihnen den Geldbrief, wie gesagt, letzten Sylvester, also am 31. December 1866 übergeben; Sie haben mir aber hier hineingeschrieben: ‚.....burg, den 31. December 1867.‘ Da wir heute den 9. März 1867 zählen, haben wir bis zu dem Tage der Einlieferung des Briefes noch mehr als neun Monate. Sie haben mir vielleicht dieses unmögliche Datum auf den Schein gesetzt, weil Sie einzelne Sachen am letzten December schon mit der Jahreszahl 1867 versehen mußten. …“

„Und was wünschen Sie nun?“

„Daß Sie gefälligst das richtige Datum auf dem Scheine angeben.“

Ich nahm den Schein und betrachtete ihn aufmerksam. Gegenstand war ein Brief, angegebener Werth dreitausend Thaler, Zeichen und Gewicht drei und ein Drittel Loth, Adressat Gutsbesitzer Fernow und Bestimmungsort Hagen. Alle diese Bezeichnungen hatte ich geschrieben. Auch meine Namenszüge waren es, die unter dem Worte „Post-Annahmestelle“ standen. Während ich mich noch bedachte, was ich thun sollte, hörte ich, wie sich in der Menge vor dem Schalter laute Rufe nach Abfertigung erhoben, und als jetzt noch der Fremde sagte: „Wenn Sie mir keinen richtigen Schein ausstellen wollen, so fällt die Verantwortung etwaiger Folgen ganz auf Sie; geben Sie mir den Schein nur wieder!“ –nahm ich rasch meine Feder und malte über die Ziffer 7 in der Zahl 1867 eine dicke 6. Dann gab ich den Schein dem Herrn zurück, der ihn leichthin in die Brieftasche steckte, und stürzte zu meinen Geschäften am Schalter, ohne weiter auf ihn Acht zu geben.

Nachdem ich bis ein Uhr eine wahre Sündfluth von Arbeit bewältigt hatte, ging ich zu Tische und dann zu meiner Braut. Im Gespräch mit derselben erinnerte ich mich, wie schwer es mir immer wird, im Anfange des neuen Jahres die Zahl des verflossenen zu vermeiden, und daß ich in den ersten Tagen des neuen Jahres stets irrthümlich aus alter Gewohnheit die Zahl des vorhergehenden hinsetze. Ich wußte nicht, daß mir je das Umgekehrte begegnet wäre, und es kam mir höchst wunderbar vor, daß ich am 31. December 1866 die Zahl 1867 lediglich aus Vergeßlichkeit geschrieben haben sollte. Allein es war ja sehr leicht möglich, und in der Annahme dieser Möglichkeit hatte ich auch das Verlangen des Fremden erfüllt und ihm den Schein verbessert. Ich nahm mir vor, am Abend die Bücher nachzusehen und zu prüfen, ob ich bei der Eintragung des Geldbriefes in die Annahmeliste denselben Fehler begangen hätte. Aber als ich Nachmittags in die Amtsstube kam, fand ich wieder so viel Arbeit vor, daß ich mein Vorhaben vergaß. Später fiel mir die Begebenheit noch einmal ein, und ich tröstete mich damit, daß, da ich mich in den letzten Tagen des Jahres 1866 verlobt hatte, in dem Rausche jener Tage meine Hand mechanisch verschiedene Dinge geschrieben haben mochte, von denen mein Kopf nichts wußte, so wenig mir dies auch wahrscheinlich war. – –

Es war am 14. Juni Morgens gegen zehn Uhr – ich werde dieses Datum nie vergessen – als der Postdirector einen Eleven in das Bureau schickte, welcher mir die Geldbriefannahmeliste vom Monat December 1866 abforderte. Ich suchte sie heraus und gab sie dem Eleven. Nach kurzer Zeit kam dieser zurück und citirte mich zum Director. Ich zog meinen Schreibärmel aus und begab mich in dessen Arbeitszimmer. In diesem fand ich außer dem Director, der mich auffallend kühl empfing, zwei mir unbekannte Herren vor, mit denen der Director augenscheinlich soeben ein sehr erregtes Gespräch geführt haben mußte. Auf den großen Linden vor den Fenstern des Zimmers und auf dem grünen Tuche des Pultes lag der prächtigste Sonnenschein und die Finken jubilirten draußen, als hielten sie Hochzeit, während das Gesicht meines Vorgesetzten nur Sturm und Gewitter verkündete. Als ich eben überlegte, was ich denn verbrochen haben könne, wandte sich der Director an die beiden Herren und sagte:

„Die Angelegenheit ist zu wichtig, als daß ich mir eine Entscheidung in derselben anmaßen dürfte. Haben Sie die Güte, ich bitte Sie, und folgen mir mit dem Postexpedienten da zum Chef, dem Herrn Oberpostdirector, derselbe wird auf Ihren Vortrag befinden.“ Der Director schritt zur Thür und begab sich mit uns in das elegante Bureau des Chefs.

Wir waren bald in dasselbe gelangt. Derselbe, ein äußerst liebenswürdiger, herzensguter und wohlwollender alter Herr, erhob sich bei unserm Eintritte von seinem Bocke, zog sich einige weiße spärliche Haare aus dem Nacken über den kahlen Scheitel und fragte nach unserm Begehre.

„Hier sind,“ nahm der Director das Wort, „die Herren Justizrath Giese aus Hagen und Rechtsanwalt Helmreich von hier. Herr Oberpostdirector Schmidt. Herr Justizrath, Sie wollen die Freundlichkeit haben, den Herrn Oberpostdirector selbst unter Mittheilung des Sachverhalts zu befragen.“

„Ich werde mich kurz fassen,“ sagte dieser, ein hoher stattlicher Mann mit rundem Gesichte und blondem Schnurrbarte. „Ich komme im Namen und Auftrage meines Mandanten, des Gutsbesitzers Fernow in Hagen. Herr Fernow hat eine Darlehnsforderung an den Rittergutsbesitzer Kuntz hierselbst zum Betrage von sechszigtausend Thalern. Diese Forderung ist auf dem Gute des Herrn Kuntz eingetragen, und Herr Kuntz hat am ersten Januar jedes Jahres die Zinsen des Capitals im Belaufe von dreitausend Thalern an meinen Mandanten in Hagen zu zahlen. Die am ersten Januar 1867 fällige Zinszahlung ist ausgeblieben. Nachdem wir den Herrn Kuntz verklagt haben, hat derselbe eingewendet, er habe das Geld rechtzeitig zur Post gegeben. Auf diese Einrede kommt es im Processe meines Erachtens nicht an; denn Herr Kuntz ist durch die Darlehnsurkunde, wie ich sie auslege, verpflichtet, das Geld in Hagen zu zahlen, entweder persönlich oder durch einen Bevollmächtigten. Wir wollen jedoch Herrn Kuntz nicht drücken, ihm namentlich nicht unnütze Kosten verursachen, und so sind wir denn mit seinem Vertreter, Herrn Rechtsanwalt Helmreich hier, dahin übereingekommen, daß wir eventuell die Klage zurücknehmen, wenn uns Herr Kuntz, juristisch gesprochen, seinen Regreß cedirt. Das heißt: Herr Kuntz soll uns den Entschädigungsanspruch abtreten, den er an die Post hat –“

„Und wir sind hier,“ nahm der Rechtsanwalt Helmreich das Wort, „um Sie zu bitten, Herr Oberpostdirector, uns gütigst Ihre Ansicht über die Anerkennung dieses Anspruchs mittheilen zu wollen. Sagen Sie uns, daß die Postbehörde für den verlorenen Geldbrief ohne Weiteres aufkommen wird, so cedire ich sofort unsere Forderung an Sie dem Herrn Fernow. Müssen Sie aber Schwierigkeiten erheben, so –“

„Wird aus der Zurücknahme der Klage nichts,“ unterbrach ihn Giese, „denn mein Mandant hat keine Lust auf den Ausgang eines Processes zwischen Herrn Kuntz und der Post über den Schadenersatz zu warten. Unser Proceß mit Herrn Kuntz mag dann seinen Gang gehen.“

„Meine Herren,“ nahm der Chef das Wort, während mir plötzlich eine dunkle Ahnung aufstieg, „Sie interpelliren mich da über eine Sache, für die mir noch alle Grundlagen fehlen. Zunächst muß ich Sie bitten, mir Ihre Beweise dafür, daß der Geldbrief verloren gegangen, vorzuführen.“

„Der Beweis, daß er verloren gegangen ist, liegt mir nicht ob, Herr Oberpostdirector,“ antwortete der Rechtsanwalt Helmreich, „ich habe nur den Beweis zu führen, daß der Brief aufgegeben ist. Und das ist er; denn wir haben nicht allein mehrere Zeugen, welche gesehen haben, wie Herr Kuntz am 31. December 1866 das Geld einpackte und zur Post trug, wir haben auch hier diesen Annahmeschein Ihres Postexpedienten; wir haben ferner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_113.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)