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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Winter im Allgäuer Hochgebirge.


Stürme in den Bergen. – Im Allgäu. – Hart neben dem Vieh. – Gegen Langeweile. – Das Schalenkern. – In der Sennkuchn. – Hausindustrie im Winter. – Die Bregenzer Stickerinnen. – Bei verschneiten Wegen.


Der Winter im Gebirge, besonders hoch oben in den abgelegensten Winkeln und Thälern, ist ein wilder, ungestümer Geselle, dessen eisiger Hauch als tobender Schneesturm die uralten Wettertannen oben auf den Felsschrofen erzittern macht, zugleich aber auch die Zacken und Hörner der hochragenden Berge mit unvergleichlicher Pracht versilbert. Wenn er im Spätherbste einzieht in die Berge und von ihrem eisbehängten Lockenhaupte den ersten Schnee in die stillen Thäler schüttelt, so beginnt für die Bergbewohner die lange Zeit stiller, abgeschlossener Zurückgezogenheit. Während in der fernen Großstadt mit dem ersten Schnee die genußreiche Saison beginnt, in welcher die glänzenden Theater und Concertsäle sich füllen und unter rauschenden Klängen der Musik im Kreise froh genießender Gesellschaft die langen Winterabende rasch entschwinden, kehren in den Hütten der Bergbewohner Ruhe, Einförmigkeit und Einsamkeit ein und wird deren ganzes Leben und Treiben nebst Lust und Leid in die engbegrenzten Räume des Hauses gedrängt.

Der Mensch in den Bergen ruht aus im Winter gleichwie die Natur. Die im Sommer von zahlreichen Heerden und dem Jauchzen der Sennen belebten Hochalpen sind vereinsamt und still; die steilen Bergwiesen, auf denen noch im Herbste die Sensen und Sicheln erklangen, womit das duftende Alpenheu gewonnen wurde, liegen unter tiefem Schnee – nur noch in den Wäldern regt sich hier und da Leben, wenn „die Holzer“ mit dampfenden Rossen auf rohgezimmerten Schlitten mächtige Baumstämme und Scheitholz zu Thale befördern und der hartgefrorene Schnee unter den harzduftenden Holzlasten knirscht.

Verwöhnten Städtern würde ein Winter im Hochgebirge freilich nicht besonders behagen. Wenn es so recht wettert und stürmt und die Jahreszeit ihre rauhesten und unangenehmsten Seiten hervorkehrt, so geht selbst der abgehärtete Bergler nicht vor die Thüre hinaus in das „wüste kehle Wetter“ und bleibt ruhig in seiner niedrigen Stube am mächtigen Ofen sitzen, in welchem schwere Fichtenklötze prasseln. Ein echter stürmischer Wintertag zeigt den Kampf der Elemente in voller Kraft und Lebendigkeit und bietet ein hochinteressantes Schauspiel. Millionen von Flocken, vom Winde gepeitscht, wirbeln durch die Luft, eilen in tausendfach verschlungenen Linien von den düstern Wolken zur Erde und weben die schimmernde Decke, in welche Mutter Erde sich hüllt, um nach blüthe- und fruchtreichen Monaten langen Winterschlaf zu halten. Einzelne Windstöße zerwühlen die aufgehäuften Schneemassen, fegen mit Macht über die steilen Höhen und durch die engen Thäler, durchziehen rauschend die dunklen Tannenwälder und führen von den niedrigen steinbelasteten Schindeldächern den Schnee in langen wehenden Schleiern durch die Luft. Hier baut der Wind in wenigen Minuten mannshohe Schneewälle auf; dort stürzen morsche Tannen krachend unter der eisigen Last zusammen, und die Schneekrystalle hüllen unter unaufhörlich wechselndem Spiele und in lustigem Tanze Feld und Flur, Wälder und Gipfel in das schneeige Kleid. Hoch auf den Bergen zieht sich das Murmelthier in die Felsklüfte, um den Winterschlaf zu beginnen; die schnelle Gemse flüchtet in geschützte Schluchten und die Alpenkrähe in ihr versteckt liegendes Nest. Oed und scheinbar leblos ist die Natur. –

Tagelang dauert oft dieses Stürmen und Stöbern, so daß aller Verkehr zwischen den höchstgelegenen Orten unterbrochen wird und derselbe selbst in dem geschützten Innern der Gebirgsstädtchen auf das Nothwendigste beschränkt wird. Dann erscheint allerdings das Leben im Gebirge manchmal sehr einförmig und einsam, und wenn der Blick sinnend durch die Fenster auf die wirbelnden Flocken fällt, regt sich wohl die Sehnsucht nach den sonnigen Tagen des Sommers und vor dem Geiste steigen die Berge auf mit alpgrünen Matten, rothen Felsen und Schrofen und hochragenden Gipfeln, auf welchen das Alpenglühen thront. Dann weiß man aber auch das trauliche Heim mit seinen gemüthlichen Räumen zu schätzen und freut sich doppelt auf die Herrlichkeiten sonnenbeschienener Bergnatur.

Der Winter äußert selbstverständlich bedeutenden Einfluß auf die Lebensweise der Bergbewohner. Wir reden hier nicht von den Gebirgsstädtchen, in welchen der Winter in ähnlicher Weise wie in den übrigen Kleinstädten zugebracht wird, wo die in engbegrenzter Anschauungsweise befangenen Bewohner mit naiver Selbstgefälligkeit sich gewaltig anstrengen, durch Veranstaltung „feiner Abendunterhaltungen, geistreicher Spielpartien und urfideler Kneipereien“ die Winterabende „höchst gemüthlich“ auszufüllen, – sondern wir wollen uns umsehen, wie es in den verschneiten abgelegensten Gebirgswinkeln aussieht und was da die Menschen thun und treiben. Die Bewohner der oft von allem Verkehr abgeschnittenen Gebirgsdörfer und hoch gelegenen Einzelhöfe kommen tage- und oft auch wochenlang nicht aus ihren Häusern, die im tiefsten Schnee halb vergraben liegen. Die ländlichen Beschäftigungen im Freien sind größtentheils eingestellt, und die Arbeit des Gebirgsbauern ist auf die Räume im Innern des Hauses beschränkt.

In den Gebieten des Allgäu und der angrenzenden Gebirgsbezirke von Vorarlberg concentrirt sich die Hauptthätigkeit auf die Besorgung des Viehstandes, der Haupterwerbsquelle der meisten Gebirgsländer. Aufzucht und Pflege desselben, Gewinnung von Milch, Butter, Käse und Eiern, sowie Verkauf von Kühen und Kälbern bilden die Angelpunkte, um welche sich daselbst sämmtliche Interessen der Landbevölkerung drehen und die auch im Winter nicht aus dem Auge gelassen werden. Unmittelbar hinter den Wohnräumen, von denselben nur durch die zum Theil als Küche benutzte Hausflur getrennt, befinden sich die Stallungen, über welchen geräumige Böden die Lasten des würzigen Alpenheues bergen. Sorgsam werden diese Futtervorräthe gesammelt und aufbewahrt, denn von ihnen hängen die Erhaltung und das Gedeihen des werthvollen Viehstandes während der langen Wintermonate ab.

In diesem Vereintsein der Stallungen mit den Wohnräumen unter einem Dache des schmucken Gebirgshauses drückt sich die hohe Bedeutung aus, welche der Bergbauer seinen gehörnten Zöglingen beilegt. Er will das Vieh in seiner Nähe und unmittelbar unter seiner Aufsicht haben und hat sich schon aus diesem Grunde die Bauart seines Hauses so eingerichtet, daß er nur wenige Schritte zu gehen braucht, um von der Wohnstube in den Stall zu gelangen. Dieser ist für ihn überhaupt der wichtigste Bestandtheil des Gebäudes; daher baut er ihn auch bei Aufführung eines neuen Gehöftes zuerst fertig und geht erst nach Vollendung desselben an den Ausbau der Wohnräume. Der Stall ist auch im Winter vorzugsweise der Schauplatz seiner Thätigkeit, und er besucht denselben täglich mehrmals, um die Fütterung und das Melken des Viehes zu besorgen. In den Zwischenstunden hat er allerdings wenig zu thun und Zeit genug, einen Theil des Tages auf der sogenannten Gautsche, einem in der Nähe des Ofens befindlichen Sopha von höchst primitiver Form, in behaglichem Nichtsthun zu verbringen.

Die Wintermonate sind somit für den Gebirgsbauer eigentlich die Zeit der Ruhe, welche er größtentheils in einer Art von Winterschlaf zubringt. In seinem hölzernen Hause ist er wohlgeschützt gegen Wind, Kälte und Schneegestöber, denn das Holzhaus hält warm, und wenn es recht arg wettert und die Schneestürme an den Pfosten des Gebäudes rütteln, so verschließt er die Fenster mit den bemalten Holzläden und schiebt auch wohl in der Wohnstube ein weiteres Ladenpaar vor, welches sich auf Falzen aus dem Getäfel schieben läßt. Wintervorräthe, bestehend in Brod, Mehl, Kraut und Rauchfleisch, hat der Gebirgsbauer schon im Herbste gesammelt, und der mächtige, oft nahezu den vierten Theil der Wohnstube einnehmende Ofen verbreitet die behaglichste Wärme. Unter diesen Umständen kann er dem Winter in seiner reinlich gehaltenen, niedrigen Stube getrost entgegensehen. Hat er vielleicht einmal Langeweile – und das kommt beim Bauer ohnehin selten vor – so holt er ein Paquet vergilbter Karten aus der Lade, steckt sich eine frische Pfeife an und macht mit seinen Hausgenossen oder Nachbarn einige Spiele, oder wenn es gut geht, liest er im Kalender oder in einem Zeitungsblatte und studirt allenfalls auch noch in einem alten Flurplane. Eingeweihte versichern übrigens, daß die meisten Processe, welche der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_117.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)