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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

des Volkes, ganz besonders des deutschen Volkes. Sie wurde, um mit Julius Mosen zu reden, zu einem deutschen Nationalmythus neben der Faustsage, wie einst beim Volke der Hellenen die ihr nah verwandte Prometheussage.

Wenn auch die leibliche Person Ahasver’s selbst nicht mehr zur Erscheinung kam, obwohl Mosen sich erinnert, daß sie zu seiner Jugendzeit noch durch sein voigtländisches Heimathsdorf gegangen sein soll, so entwickelte sich um so mehr die Sagenperson des Ewigen Juden. Der Gedanke des irdischen Fortlebens in Folge einer unseligen That oder gottverhöhnenden Wandels, dem wir hier begegnen, war der germanischen Anschauung durchaus nicht fremd. Er fand sich in vielen anderen Sagen niedergelegt, so in der „Frau Holle“, dem „Wilden Jäger“, „Fliegenden Holländer“, „Ritter Tannhäuser“, und bei so manchen in Burgen und Klöstern nächtig umgehenden Geistern. Lebte doch fast die ganze altgermanische und heidnische Götterwelt, soweit sie sich nicht in ein christliches Gewand einzuschließen vermocht hatte, heimlich in Bergen, in den Lüften und Wässern. Zu ihnen gesellten sich dann allerhand volksthümliche Helden, Fürsten und Könige, nicht fluch-, sondern segenbeladen, von Theodorich und Karl dem Großen an bis hinauf zu den erhabenen Staufenkaisern Friedrich dem Ersten und Zweiten, obwohl die neuere Forschung in ihrer sagenhaften Erscheinung auch in ihnen nur Nachfolger des alten germanischen Hauptgottes Odin erblickt, den das Volksgemüth nicht sterben lassen konnte.

Zuletzt war ja dieser ewige Wanderer nichts weiter als das unstät und flüchtig auf der Welt umherirrende Volk der Juden mit seiner unverwüstlichen Lebenskraft. Wie sehr man das Schicksal dieses Volkes mit der Person unserer Sage in’s Gleiche stellte, ergiebt unter Anderm der Umstand, daß man an die Erscheinung der letztern Unheil und Verderben knüpft, gleichwie man auch jenem Schuld gab, daß es Pest und Seuchen bringe.

So lebte die Sage lange im Volke ihr heimliches Dasein, bis Poesie und Reflexion sich ihrer bemächtigten, und wie diese aus dem Schwarzkünstler Johannes Faust den Träger des Menschengeistes in seinem Streben und Ringen nach Wahrheit und Vollendung zu schaffen verstand, so machte sie auch den armen wandernden Schuster zum Repräsentanten tiefsinniger Probleme.

Auf dieser geistigen Wanderung Ahasver zu folgen, zu sehen, wie er sich da wandelte und fortentwickelte, ist von großem Interesse.

Die Reihe dieser Ahasver-Dichter und -Denker beginnt mit Christian Schubart und endet mit Robert Hamerling. Novelle, Roman, Ballade und Epos haben sich seiner bemächtigt; ja selbst über die Bühne ist er gewandelt, der ewige Wanderer, und fand dort in der dämonisch angelegten Natur Ludwig Devrient’s einen vortrefflichen Interpreten.

Der Schubart’sche Ahasver füllt die gräßliche Oede seines Lebens damit aus, daß er Todtenschädel in wahnsinniger Freude von sich wirft, daß sie hüpfen und splittern, darunter die Schädel seiner Eltern, seines Weibes, seiner Kinder. Die Vernichtung tritt in allen Gestalten zu ihm heran; er empfindet alle ihre Qualen bis zum letzten Moment, zum – Tode, der jedoch nie eintritt. Im Gegensatze zu ihm ist der Ahasver von Alois Schreiber ein empfindungsloser Schatten, dem die Ruhelosigkeit seines Dahinstürmens jeden Genuß, jede Theilnahme an den Leiden und Freuden der Erde versagt. Bei Lenau wird er zur Folie tiefsinnigen Weltschmerzes, der in der Erde nur eine Lüge des Paradieses, immer nur den „alten Tand von Blüthentreiben und Zerstören im öden Spiele“ sich wiederholen sieht. Auch Wilhelm Müller gewinnt in dem ruhelosen Wanderer ein Bild der Verödung, der Qual des übersättigten und nur noch im Tode Ruhe suchenden und Ruhe findenden Lebens. Aehnlich läßt Gustav Horn seinen Ahasver nur leben, um die Unzulänglichkeit des bloßen Lebens quälend zu empfinden, um zu erkennen, daß das Leben nichts ist als ein immerwährendes Sterben, daß der Tod kein Unglück, sondern eine Wohlthat der Menschheit ist. In dieser Erkenntniß erfüllt sich bei ihm der Fluch, da er, der Lebemann, der nichts mehr haßte als den Tod, sich der Hoffnung hingegeben hatte, Christus, der Auferwecker des Lazarus, werde den Tod abschaffen, und im Grolle über diese Enttäuschung den zum Tode Schreitenden verhöhnt hatte. Klingemann, der sein Drama Ahasver nach Horn’s Novelle bildete, findet in der Sage die Idee der Läuterung der Menschheit zur unumgänglichen Freiheit durch das Leid: „Sie, die Sage, wäre dann das höchste religiöse und zugleich poetisch-tragische Mysterium, sowie Christus selbst als der echte Vermittler des Irdischen zum Ueberirdischen erscheint und den ewigen Wanderer auf sein kommendes Reich verweist.“

Lebhaft gefesselt von dem Träger unserer Sage wurde auch Goethe. Er faßte wiederholt den Gedanken, ihn zum Helden eines Epos zu formen, in welchem „die hervorragendsten Punkte der Religions- und Kirchengeschichte zur Darstellung kämen“. In „Wahrheit und Dichtung“ giebt er seine Auffassung des Verhältnisses des jüdischen Schusters zu Jesus. Das Epos selbst, obwohl er wiederholt darauf zurückkommt, kam jedoch nicht zu Stande. In den wenigen „Fetzen“ – wir gebrauchen hier sein eigenes Wort – seines Fragments „Der Ewige Jude“ hebt sich nur der tiefsinnige Gedanke der Wiederentsendung Christi zur Erde über das niedrige Niveau der Burleske. Auch bei Schiller mag zu der geheimnißvollen Figur des Armeniers im „Geisterseher“ der armenische Ahasver, Cartaphilus, Modell gesessen haben.

Und wie vielerlei sind die Wanderziele, die dem abgehetzten Meister von der Ahle angedichtet worden sind! Während in der alten Sage, auch bei Schubart und Goethe, die Wiederkunft Christi auf Erden seiner Wallfahrt ein Ziel setzt, soll er nach Ludwig Köhler wandern, bis die Freiheit in die Welt kommt, bei Zedlitz, bis „die weiße Friedenstaube der Arche Noäh wiederkehrt, bis von Land und Meer der Freude Jauchzen tönt, die Wuth gebunden und der Haß versöhnt, in neuer Liebe sich die Völker küssen“, was ungefähr mit dem goldenen Zeitalter Elihu Burritt’s zusammentreffen wird. Weit schlimmer ergeht es ihm bei Oelckers, der ihn nicht eher rasten läßt, bis das Ende der Zeit überhaupt gekommen ist, und der dabei die Qual seines Daseins noch dadurch verschärft, daß er ihn das Schicksal aller seiner Nachkommen voraussehen läßt. Nach Julius Mosen’s Auffassung würde der Zeitpunkt seiner Erlösung dann einzutreten haben, wenn die Menschheit sich mit dem Christenthum völlig versöhnt haben wird, denn er erblickt in Ahasver, den er zum Gegenstande eines längeren, viel Geist sprühenden Gedichts gemacht hat, die im irdischen Dasein befangene Menschennatur, gleichsam den in einem Einzelwesen verleiblichten Geist der Weltgeschichte, der erst im unbewußten Trotze, dann endlich mit deutlichem Bewußtsein dem Gotte des Christenthums sich entgegenstellt. In ähnlicher Weise ist es bei Sue, der aus dem weiland Schuster sogar eine Species von Socialdemokraten gemacht hat, der Zeitpunkt, in welchem der christliche Liebesgedanke seine allgemeine Verbreitung gefunden und die Aufhebung aller Classenunterschiede herbeigeführt haben wird. Andersen, der in ihm einen zur Erde gestiegenen Engel, Ahas, den Engel des Zweifels, erkannt hat, läßt ihn nicht eher zur Ruhe kommen, d. h. zum Himmel wieder zurückkehren, als bis die Entwickelung der Menschheit derart gewachsen und fortgeschritten ist, daß das zweifelnde, verworfene Geschlecht der Kinder Eva’s in Kraft und Wahrheit dem Himmel zugeführt ist. Es ist darnach also die Himmlischwerdung der Menschheit das Ziel der Erdenwallfahrt Ahasver’s. S. Heller, der die umfangreichste dichterische Wiedergeburt der Sage geliefert hat, sieht den Höhepunkt der menschlichen Entwickelung schon da erreicht, wo der Cultus des freien Menschenthums als höchste und letzte Religion in der Menschheit oder doch zunächst in ihren höchsten geistigen Vertretern herrscht. Diesem Culminationspunkte schritt die Menschheit schon seit Erfindung der Buchdruckerkunst, der Entdeckung der neuen Welt rüstig entgegen; er ist aber nach Heller bereits eingetreten in der Person Goethe’s, des echten Menschen. Sonach läßt Heller seinen geplagten Wanderer bereits die ersehnte Ruhe finden, die ihm fast alle Anderen versagen.

Um seine Wanderung daher einigermaßen zu versüßen, hat der galante Sue ihm eine ewige Jüdin in der Person jener Herodias beigesellt, die einst das Haupt Johannes des Täufers um einen Tanz begehrte und um dieser glaubenslosen Unthat willen der gleichen Flucht der Ruhelosigkeit verfiel.

In anderer Weise bringt Levin Schücking in einer prachtvollen Episode seines Romans „Der Bauernfürst“ den Ewigen Juden in Verbindung mit dem fliegenden Holländer und dem wilden Jäger – drei Geächtete, von denen der Eine der Erde, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_129.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)