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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Haupt- und Grundthat in dem Leben des großen deutschen Denkers und Schriftstellers hervorgehoben, den unsere Zeit stets mit Stolz als einen ihrer leuchtendsten Sterne bezeichnet hat, dem selbst seine Gegner die makellose Reinheit der Gesinnung, die Ueberlegenheit einer hoch über alles Mittelmäßige hinausragenden Kraft, die unabweisbare Gewalt des tief in den Gang der Dinge greifenden Genius nicht absprechen konnten. Ein Gesammtbild seiner Persönlichkeit und seines ganzen Lebenswerks, seines arbeitsvollen, vielgestaltigen und vielseitigen Wirkens auf den verschiedensten Gebieten unserer Literatur, der er eine Reihe unsterblicher, nach Inhalt und Form vollendeter Meisterwerke gegeben, wird den Lesern der Gartenlaube nicht vorenthalten bleiben.




Die Heilkunst, der Heilkünstler und die Curirfreiheit.


Der Kaiser von Deutschland verweigerte es, wie Zeitungen berichten, bei seinem Kranksein Arznei einzunehmen, und er wurde trotzdem gesund. Dies passirt übrigens noch jeden Tag sehr vielen anderen Kranken, welche den Muth haben, Arznei zu verschmähen. Solche Heilungen, bei welchen der Kranke von selbst gesund wird und die man früher einem besonderen „Arzte im Menschen“ zuschrieb, würden einen weit bessern Ruf genießen, als dies der Fall ist, wenn die Wiedergenesenden nicht viel zu zeitig volle Gesundheit beanspruchten und die vorher erkrankten Organe noch längere Zeit vorsichtig behandelten. Es müßte z. B. ein Reconvalescent, der von sogenannten Brustbeschwerden (Husten, Auswurf, Kurzathmigkeit etc.) heimgesucht wurde, noch längere Zeit alle Verstöße vermeiden, welche den Athmungsorganen schädlich werden könnten, wie: die Behinderung des Athmens (durch enge Kleidung, Uniform, Schnürleib, enge Halsbinden etc.), Einathmen kalter, rauher, unreiner (rauchiger und staubiger) Luft, zumal bei Nacht, besonders den schnellen Wechsel zwischen kalter und warmer Luft, Störungen im Blutlaufe durch Herz und Lungen, die sich hauptsächlich durch stärkeres Herzklopfen zu erkennen geben (wie anstrengende Bewegungen, vieles und lautes Sprechen, aufregende Getränke und Gemüthsbewegungen etc.). Eine große Gefahr für solche Reconvalescenten bergen aber vorzeitige Cur- und Badereisen, zumal in rauher Jahreszeit und ohne Respirator. Man beherzige ja, daß in der Wiedergenesungsperiode der Mensch für alle Schädlichkeiten leichter empfänglich ist und daß durch solche das frühere Leiden nicht nur sehr leicht zurückgerufen, sondern auch zu lebensgefährlicher Höhe gesteigert werden kann. Als eine Hauptregel möge sich deshalb jeder in der Wiedergenesung Begriffene merken, daß es nach dem Schwinden der Krankheitserscheinungen und selbst nach Eintritt des Wohlseinsgefühles doch noch längere oder kürzere Zeit bedarf, ehe dem erkrankten Organe, sowie überhaupt dem ganzen Körper eine angestrengte Thätigkeit, sei es auch in seinen Vergnügungen, zugemuthet werden darf.

Und warum erlangen denn nun Diejenigen, welche bei ihrem Kranksein Arzneien verschmähten, doch auch ihre Gesundheit wieder? Und warum werden denn überhaupt Kranke bei den allerverschiedenartigsten, vernünftigen und unvernünftigen Behandlungsweisen ebensowohl sehr gelehrter, wie auch sehr ungelehrter Heilkünstler doch gesund? Diese Fragen sind von der Wissenschaft durch Thatsachen ziemlich sicher zu beantworten. Jeder Krankheit liegt nämlich eine von der naturgemäßen abweichende Beschaffenheit irgend eines festen oder flüssigen Körperbestandtheiles zu Grunde. Leider sind diese sogenannten organischen oder materiellen (anatomischen) Störungen zur Zeit noch nicht bei allen Krankheiten, am wenigsten noch bei den sogenannten Nervenkrankheiten, ergründet. Es ziehen nun diese Abweichungen stets (ganz besonders bei fieberhaften Krankheiten) andere und zwar ganz bestimmte materielle Veränderungen nach sich, welche die ersteren entweder vollständig oder doch zum größten Theile aufheben und auf diese Weise die Krankheit heilen, oft sogar auch dann noch, wenn der kranke Theil durch unpassende Behandlung maltraitirt wird. Man bezeichnet diese ganz nach denselben im menschlichen Körper herrschenden physiologischen (chemisch-physikalischen) Gesetzen vor sich gehenden heilsamen Vorgänge als „Naturheilungsprocesse“. Ihnen ist die Heilung fast aller inneren Krankheiten zu verdanken; sie haben den Heilkünstlern und den sogenannten Heilmitteln den Ruf von Helfern in der Krankheitsnoth verschafft. Nicht immer freilich führen diese Processe zur Heilung; oft ziehen sie auch, zumal wenn sie in ihrem Verlaufe durch unpassende Eingriffe gestört werden, bleibende Veränderungen, sogenannte organische Fehler nach sich, wie z. B. die Herzentzündung der Grund zu unheilbaren Herzfehlern sein kann. Ja, manchmal veranlaßt ein solcher Proceß dadurch, daß er andere Organe in Mitleidenschaft zieht, einen tödtlichen Ausgang, wie dies z. B. die Entzündung der Hirnmasse thut, welche rings um einen sonst nicht tödtlichen Schlagflußherd (d. i. eine aus geborstenen Gefäßen in’s Gehirn ausgetretene größere oder kleinere Portion Blutes) entsteht.

Es dürfte nun wohl leicht zu begreifen sein, daß der gebildete Heilkünstler jene Naturheilungsprocesse, auf deren enorme Wichtigkeit vom Verfasser schon zu wiederholten Malen aufmerksam gemacht wurde und auf welche leider die Aerzte nicht genug Werth legen, nicht nur in ihrem Verlaufe genau kennen, sondern auch naturgemäß, das heißt durch richtiges diätetisches, den Lebens- und Gesundheitsbedingungen entsprechendes Verfahren zu unterstützen im Stande sein muß. Da nun aber bei den verschiedenen Krankheiten der Naturheilungsproceß ein ganz verschiedener sein, ja auch bei derselben Krankheit in mehrfacher und verschiedener Weise vor sich gehen kann, so muß der Arzt vor allen Dingen die ihm vorliegende Krankheit (das heißt die den Krankheitserscheinungen zu Grunde liegenden Gewebsveränderungen) zu erkennen (diagnosticiren) verstehen. Ohne die Fähigkeit, die vorhandene Krankheit sicher erkennen zu können, und ohne die Kenntniß vom Verlaufe der Krankheit, ganz besonders aber ihrer nachfolgenden Heilprocesse, ist ein wissenschaftlicher Heilkünstler gar nicht denkbar. Sicherlich wird der Arzt der Zukunft weit weniger gelehrt (das heißt mehr ein Mann der Heilkunst als der medicinischen Wissenschaft) und weniger in der Arzneimittellehre erfahren sein, als der Arzt der Jetztzeit, wohl aber wird er durch längeres Studium am Leichentische und am Krankenbette besser im Stande sein, die Krankheit sicher zu erkennen und sie durch richtige, auf Physiologie gegründete Unterstützung der ihr eigenthümlichen Naturheilprocesse zu heilen. Natürlich wird es auch Sache dieses ärztlichen Ratgebers sein, an der Hand der Gesundheitslehre (Hygieine) die Anleitung zum Verhüten der Krankheiten zu geben.

Von einem wissenschaftlich gebildeten Heilkünstler muß also durchaus verlangt werden, daß er in der Diagnostik (der Lehre von der Erkennung der Krankheiten) und in der pathologischen Anatomie (der Lehre von den der Krankheit zu Grunde liegenden Veränderungen) gehörig zu Hause sei. Dies ist aber nur dann möglich, wenn der Studirende, außer der Kenntniß des Baues vom gesunden menschlichen Körper (normalen Anatomie) und der Lebensvorgänge innerhalb desselben (Physiologie), jene beiden Wissenschaften an zahlreichen Leichen und Kranken, sowie unter gehöriger Anleitung gründlich studirt hat. Ob dies nun die sogenannten „Naturdoctors“ aus den verschiedenen Ständen bei ihrer Vorbildung zu lernen im Stande sein können, diese Frage kann sich der vorurtheilsfreie und denkende Leser wohl selbst beantworten.

Mögen einige Beispiele den Leser mit der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Diagnostik bekannt machen. Diese besteht nicht etwa blos im Pulszählen und Zungebesehen, sondern verlangt ganz besonders große Uebung ins Behorchen (Auscultiren), Beklopfen (Percutiren), im mikroskopischen und chemischen Untersuchen, im Besichtigen innerer Theile mit sogenannten Spiegeln z. B. des Kehlkopfs, Mastdarms, des Auges, Ohres etc.), in Erforschung und Beurtheilung der Fieberhitze durch das Thermometer. – Bei dem Behorchen des Herzens werden nicht selten Geräusche gehört, welche in der Mehrzahl der Fälle auf ein sogenanntes organisches Herzleiden (Verengerung der Herzöffnungen, Nichtschließen der Herzklappen) hindeuten. Sie finden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_145.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)