Seite:Die Gartenlaube (1874) 147.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

wie zu einer Erbtugend erzogen werden kann und daß ihm von Jugend auf die verschiedenartigsten Ideen und Gemüthsstimmungen der Art in das Gehirn einzupflanzen sind, daß es, wenn es erwachsen ist, meint, es seien ihm dieselben angeboren. Bevor aber unser Schulunterricht nicht mehr als jetzt für die Aufklärung thut, bevor sich nicht naturwissenschaftliches Wissen mehr Eingang in das tägliche Leben verschafft und Eigenthum des Volkes geworden ist, werden die Menschen auch nicht befähigt werden, von der Freiheit, sie mag betreffen was immer sie will, den richtigen Gebrauch machen zu können. Es wird aber sicherlich noch langer Zeit bedürfen, ehe die Erbtugend die große Mehrzahl der Menschen für die ganze volle Freiheit und für den Materialismus befähigt. Daß die jetzige Menschheit dieser Wohlthaten noch nicht würdig ist, dies beweist recht deutlich unser jetziges politisches Treiben, sowie der heftige Widerspruch, welchen heutzutage wissenschaftliche Thatsachen, die doch so segensreiche Wirkungen für das ganze menschliche Geschlecht haben könnten, erfahren, wenn sie gegen den Altgroßmutterwunderglauben verstoßen; es beweist dies auch die Theilnahmlosigkeit, welche die Gutsituirten den humanen Bestrebungen für Volksbildung und Volkswohl (Volksbildungsvereine, Kindergärten, Arbeiterwohnungen, Volksbäder etc.) gegenüber behaupten.

Nur durch die von aller Beeinflussung durch die Kirche befreite Schule (wenn sie nämlich so ist, wie sie sein soll) führt der Weg zur wahren Freiheit, zur edelsten Humanität, zur Volksgesundheit, zur Vernunft und reinsten Sittlichkeit.

Bock.




Aus amerikanischen Gerichtssälen.


3. Ein neuer Graf von Gleichen.


Vor etwas mehr als zwei Jahren kam ein Engländer, mit Namen Oades, nach San Bernardino County im südlichen Theile des Staates Californien. Da er ein gebildeter, im Umgange liebenswürdiger und, wie es schien, bemittelter Mann war, so wurde er allgemein als ein schätzenswerther Zuwachs zu der spärlichen Bevölkerung betrachtet, als es verlautete, daß er in Temescal Township eine Farm angekauft und sich auf derselben niedergelassen habe. Im Januar 1873 heirathete er daselbst eine junge Wittwe von großer Schönheit, Frau Nanie Foreland, die ihm im darauffolgenden December ein Kind gebar. Herr und Frau Oades wurden von der ganzen Nachbarschaft als im höchsten Grade achtungswerth betrachtet.

Im Monate November 1873 erschien in der Stadt San Bernardino eine Frau mit drei Kindern – zwei Knaben und einem Mädchen –, die sich nach Oades’ Wohnsitz erkundigte und, nachdem sie ihn ausgefunden, sich dorthin begab. Seitdem wohnt sie dort.

Vor Kurzem wurde es bekannt, daß Oades und diese Frau in ehelicher Gemeinschaft zusammenlebten. Die Nachbarn, empört hierüber, verklagten Oades vor dem Criminalrichter Billings „wegen offenen Beiwohnens und Ehebruchs“. Die Verklagten erschienen vor dem Richter, legten ein vollgültiges Ehezeugniß vor und bewiesen durch dieses und andere authentische Urkunden, daß das Weib Oades’ Ehefrau ist, daß sie ihm vor etwa zwanzig Jahren in England gesetzlich angetraut wurde und dann mit ihm nach Neu-Seeland auswanderte, wo ihre Kinder geboren wurden. Natürlich wurden die Verklagten hierauf freigesprochen. Sie kehrten zu ihrer Farm zurück, und Oades fuhr fort, mit beiden Frauen zu leben wie früher.

Durch das Fehlschlagen dieses ersten Versuches nicht abgeschreckt, strengten die Nachbarn nunmehr eine zweite Klage vor demselben Richter an, und zwar diesmal gegen Herrn Oades und Gattin Nummer Zwei, die schöne Wittwe. In der Verhandlung dieses Processes wurde nachgewiesen, daß vor etwa acht Jahren Oades in Wellington County, Neu-Seeland, und zwar in einer Grenzansiedelung lebte, als die Maoris – ein Stamm von Eingeborenen in Frieden mit England – in die Ansiedelung einbrachen. Oades war gerade abwesend in Victoria und fand, als er zurückkehrte, seine Wohnstätte niedergebrannt und seine Familie spurlos verschwunden. Reste menschlicher Gebeine wurden unter den Ruinen aufgefunden, und diese Thatsache sowie weitere Indicien, die er während zweijähriger Nachforschungen ermittelte, drängten ihm nach und nach die Ueberzeugung auf, daß sein Weib und seine Kinder todt wären. Er vermochte es nicht länger, auf dem Schauplatze seines einstigen häuslichen Glückes, jetzt dem dunkeln Grabe desselben, zu verweilen, verließ deshalb Neu-Seeland und kam nach Californien.

Auf Grund dieser Thatsachen behauptet Oades, daß seine Heirath mit seiner zweiten Frau gültig sei, weil Paragraph Zwei der einundsechszigsten Abtheilung des Civilgesetzbuches sagt: „Die Ehe einer Person, die einen früheren Ehemann oder eine frühere Ehefrau am Leben hat, ist ungültig, ausgenommen jener frühere Mann oder jene frühere Frau wären abwesend, und die Person hätte nichts davon gewußt, daß sie innerhalb der der neuen Heirath vorhergehenden fünf aneinander folgenden Jahre gelebt hatte, in welchem Falle die neue Ehe blos ungültig wird von dem Zeitpunkte an, daß ein zuständiges Gericht die Nichtigkeit ausgesprochen hat.“ Eine genaue Prüfung des Gesetzes ergab, daß dieses Argument unbestreitbar war, da kein Zweifel herrschen konnte, daß, als Oades seine zweite Frau heirathete, er während mehr als fünf Jahren von der Existenz seines ersten Weibes nichts wußte. Die Klage wurde demnach abgewiesen.

Da Oades immer noch fortfuhr mit den beiden Frauen zu leben, so schickten die Nachbarn eine Deputation an Cokeman, den Staatsanwalt des Districts, um ihm die Sache vorzulegen. Dieser, nach ernstlicher Prüfung, unterbreitete den Fall der Großen Jury, die denn auch gegen Oades eine Anklage wegen Doppelehe beschloß.

Die vor Kurzem stattgehabte öffentliche Verhandlung des Falles zog natürlich eine ungewöhnliche Menschenmenge herbei, deren ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Damen Oades gefesselt blieb. Dieselben Thatsachen wie früher wurden bewiesen, und nach dem Schlusse des Beweisverfahrens eröffnete der genannte Districtsanwalt die Anklage in einem geschickten und beredten Vortrage. Ohne demselben im Einzelnen zu folgen, müssen wir doch, um auch dem Leser ein Urtheil zu ermöglichen, sowohl über die Hauptfrage als auch über den Werth des Verfahrens, die Hauptsätze uns zu wiederholen gestatten. Das Gesetz muß nach seinem Geiste und seiner Absicht ausgelegt werden, und wo die Worte diesem widersprechen, da müssen sie gegen Geist und Absicht zurückstehen. Wo der Grund einer Gesetzesbestimmung fehlt, da kann letztere nicht zur Anwendung kommen. Wo derselbe Gesetzesgrund besteht, sollte die Entscheidung dieselbe sein. Wer nur dem Wortlaute folgt, bleibt blos in der Schale des Gesetzes haften.[1] Die klare Absicht des Gesetzes war, der Illegitimität der Kinder zweiter Ehe vorzubeugen, allein gewiß konnte es nicht die gewesen sein, Doppelehen gesetzlich zu machen. Zwar wußte Oades im Augenblicke des Eingehens der zweiten Ehe nichts von der Existenz seiner ersten Ehefrau, allein sein fortgesetztes Zusammenleben mit beiden Frauen, nachdem er dies erfahren, ist ausreichender Beweis seiner strafbaren Absicht von vornherein.

Der Vertheidiger des Beschuldigten bezog sich auf die Bestimmungen des Strafgesetzbuches über Doppelehe, die ausdrücklich vorschreiben, daß Niemand für schuldig erachtet werden soll, „dessen Ehemann oder Ehefrau fünf aufeinanderfolgende Jahre abwesend gewesen (vor Abschluß der zweiten Ehe), ohne daß deren Existenz ihm bekannt gewesen“. Er führte aus, daß die vom Districtsanwalte vertheidigte ausdehnende Auslegung in Strafsachen sehr gefährlich sei, und setzte den von ihm angeführten römischen Interpretationsregeln schlagende in den Worten entgegen: „Man muß sich an des Gesetzes Buchstaben halten.“ Zwar müsse die Absicht des Gesetzes entscheiden, allein die Worte seien der Beweis der Absicht, und wer den Gesetzestext verändere, der interpretire nicht mehr.

  1. Da dieser Fall auch für deutsche Rechtsgelehrte von Interesse sein dürfte, so will ich die Interpretationsregeln des römischen Rechts, wie sie vom Districtsanwalte citirt wurden, kurz hier anführen: „Cessante ratione legis, cessat lex ipsa. – Ubi eadem ratio, ibi idem jus. – Qui haeret in litera, haeret in cortice.“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_147.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)