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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


 Am Beichtstuhl.

Im Dome ist’s, im Schutz der heil’gen Mauern;
Am Beichtstuhl hingesunken kniet ein Weib,
– Der Priester zürnt – und wie in Fieberschauern
Durchzuckt es schmerzensvoll den jungen Leib.

5
Du Aermste, sprich, was Schweres du verschuldet,

Daß dich der Eif’rer in den Bann gethan!
Hast eines Ketzers Liebe du geduldet?
Ergriff dich selbst des Ketzerglaubens Wahn?

Dem Beicht’ger nur gestand’st du dein Verbrechen;

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Er stieß dich strafend in den „Sündenpfuhl“;

Unfehlbarkeit weiß Andrer Fehl zu rächen –
Schon schreitet starr der Priester aus dem Stuhl.

Umsonst erflehst Du seines Segens Spende,
Aus diesem Auge bricht kein Gnadenschein,

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Umsonst ringst Du verzweifelnd Deine Hände –

Des Priesters Hand winkt nur ein kaltes Nein!

Genug, o Weib! Hör’ auf, Dich zu erniedern!
Wenn Pfaffenhaß ein Menschenglück zertrat:
Der Gott der Liebe wird Dein Fleh’n erwidern

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Und sprießen läßt er der Vergeltung Saat.


– Auch du, mein Volk, jahrhundertlang im Staube
Hast du gekniet vor röm’scher Tyrannei;
Der Kirche ward dein bestes Theil zum Raube –
Mach’ endlich dich von ihrem Joche frei!

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Steh’ auf und stürme mit des Geistes Speeren

Die Zwingburg Roms in raschem Siegeslauf!
Will man die alten Himmel uns verwehren,
So schließen wir uns neue Himmel auf.


Ernst Scherenberg.




gewinnen und der Schnee liegen bleiben werde, im anderen Falle giebt es Schmutzwetter. Der Gang der Winterwitterung ist bei uns in der Regel folgender. Während des Septembers und der ersten Hälfte des Octobers, im sogenannten Altweibersommer, hat uns Nordostwind anhaltend schönes, klares Wetter gebracht, in welchem freilich als erstes Zeichen des Winters bereits Reif auftrat. Im November kommt dann wieder der Südstrom zur Geltung und erzeugt im Zusammentreffen mit jenem die dicke, nebelige Luft, welche Jedermann verstimmt und in dazu neigenden Gemüthern sogar Selbstmordgedanken reifen soll. Setzt sich aber in dieser Zeit der Nordoststrom gehörig zur Wehre, so giebt es den ersten Schnee, der in der Regel in der zweiten Hälfte des Novembers fällt, indessen in seiner Ankunft so wenig pünktlich ist, daß der Volkswitz bei uns die unerfüllbaren Wünsche der Kinder auf „drei Tage vor dem ersten Schnee“ vertröstet. Es ist gewöhnlich ein so dichtes Gestöber, daß man kaum über die Straße sehen kann, wobei die großen Flocken wie Flaumfedern umherfliegen, und uns an das Volksmärchen erinnern, nach welchem Frau Holle dann ihre Betten ausschüttelt. Diese Auffassung mag sehr alt sein, denn schon Herodot kannte den Vergleich, bei dessen Mittheilung er bedächtig hinzusetzt, daß unter den Federn, die bei den Scythen die Luft verdunkeln, Schneeflocken zu verstehen seien.

Der erste Schnee bleibt selten liegen, aber nach seinem Hingange wiederholt sich dieses Scharmützel zu unseren Häuptern, das „Müllergeprügel“ wie der Volksmund es getauft hat, häufiger, und in der zweiten Hälfte des Decembers pflegt dann der Nordost dauernd die Herrschaft zu behaupten. Das Resultat seines Kampfes um den Thron deckt als weißer, flimmernder Prachtteppich den Boden. Wir freuen uns allemal, wenn dieser liegenbleibende Schnee vor dem Weihnachtsabend angekommen ist, denn wir haben immer noch so viel heidnisches Blut in den Adern, daß wir den Julblock nicht vergessen können, und das Wintersonnenwendefest auch gern mit winterlicher Decoration begehen, wenn auch immerhin aus der schneienden Frau Holle eine „Maria zum Schnee“ geworden, die in unzähligen Kirchen und Capellen verehrt wird. Es ist ein wunderbares Bild, wenn die Flocken ruhig herniederschweben und sich drunten anhäufen und in immer dickerer Schicht die Landschaft langsam einhüllen, uns das letzte darunter hervorblinkende Grün, sei es nun Fichte, Stechpalme oder Krauskohl, zur symbolischen Weihnachtspflanze heiligen, und den Boden für die himmelblauen Schatten bereiten, die in der Dämmerung mit dem gelbrothen Licht der erleuchteten Fenster so malerisch wetteifern. Wir abgestumpften Nordländer empfinden in der Mehrzahl den Reiz dieses Schauspieles nicht, aber der römische Dichter hat ihn festgehalten in jenem Epigramm, welches den Schneefall im Amphitheater schildert und beginnt:

„Sehet, wie dicht ein Vließ von geräuschlos fallendem Wasser
 Sich auf des Kaisers Gesicht und auf den Busen ergießt.“

Zum großen Bedauern des Landmanns, der in dieser Decke den sichersten Schutz der schlummernden Keime des Bodens begrüßt, wird auch sie gewöhnlich im Januar noch einmal vom Südwinde aufgelöst; und erst im dritten Winter, „wenn die Tage anfangen zu langen“, tritt der Nordost, von kurzen Revolten unbehelligt, ein längeres Regiment an und häuft Schnee auf Schnee, ohne daß sein Fall einen Wetterwechsel in Aussicht stellte. Es ist die Zeit, wo der Kamin mit dem knisternden Feuer jene unwiderstehliche Anziehungskraft gewinnt, für welche uns Horaz empfänglich machen will, wenn er beginnt:

„Siehst du, wie dort im Glanze von hohem Schnee
Soracte steht, wie mühsam der schweren Last
 Die Wälder fast erliegen und von
 Schneidender Kälte die Flüsse starren?“

Wenn es in dieser Zeit bei mäßig verhülltem Himmel und ruhiger Luft spärlich schneit, dann ist die beste Gelegenheit da, sich mit den entzückenden Gestalten des Schnees bekannt zu machen. Man fängt die einzelnen Sternchen, die sich jetzt nicht mehr zu dichteren Flocken verbinden, auf dem Aermel eines dunkeln Ueberrockes oder auf einer Schiefertafel auf, welche aber beide vorher Lufttemperatur angenommen haben müssen. Man hat nur nöthig, den Athem etwas anzuhalten, um ohne Vergrößerungsglas Sternbildungen zu gewahren, deren Schönheit uns noch in der Zeichnung überrascht. Die Alten haben nichts von dem Wunder der Schneeflocke geahnt, aber auch den Meisten unter uns ist sie nur aus den Abbildungen physikalischer Werke bekannt, und doch geht selten ein Winter vorüber, in welchem uns nicht wiederholt Gelegenheit geboten würde, dieses wahrhaftige Wunder mit eigenen Augen zu schauen. Unser Johann Kepler, dessen Gedächtnißfeier wir vor zwei Jahren begingen, hat zu seinem offenkundigen Verdienste, das Geheimniß des Weltbaues ergründet zu haben, auch das heimlichere gefügt, seine Mitmenschen auf den herrlichen Bau der Schneeflocke zuerst aufmerksam gemacht zu haben. Zu Neujahr 1611 schenkte er seinem Freunde, dem kaiserlichen Geheimrathe Wackher von Wackhenfels, als Angebinde eine kleine Schrift über den sechseckigen Schnee. In der Einleitung dieser seltenen Neujahrskarte malt sich uns der sinnende, überall sein Empfinden in die Natur hineintragende Deutsche, wie er leibt und lebt, wenn er erzählt, wie er in Verlegenheit, für den philosophischen Freund, der so tief von der Nichtigkeit aller Dinge überzeugt sei, und so viel Forschungen über das Nichts angestellt, eine passende Neujahrsnichtigkeit ausfindig zu machen, und ärgerlich nichts zu finden, über eine Brücke gegangen sei, und wie dort hin und wieder frische Schneeflocken auf seine Kleider gefallen seien, alle sechseckig. „Siehe da! ein Ding kleiner als ein Tröpfchen und mit vollendeter Gestalt begabt, gewiß ein erwünschtes Angebinde für den Liebhaber des Nichts, und nicht weniger passend für den mathematischen Geber, der Nichts hat und Nichts empfängt.“ Der Crösus in der Welt des Geistes und Habenichts in der anderen spielt dabei in anmuthiger Weise mit dem Wörtchen Nix, welches in der lateinischen Abhandlung bald als ein niederdeutsches, bald als lateinisches Wort genommen wird und dann Schnee bedeutet.

Allein so viele Mathematiker und Physiker sich seither mit der Schneeflocke beschäftigt haben, das Geheimniß ihrer Bildung hat noch keiner ergründet. Wohl weiß man, daß alle Elemente derselben sechsseitige Säulchen sind – entweder lange dünne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_150.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)