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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

oftmals die Vorboten des nahen Schneefalles sind. Nach langen heiter-kalten Tagen sieht man am Ende des Februars hoch am Himmel ein zartes Federgewölk sich bilden, und am Abende erscheint der Mond mit einem Ringhofe umgeben. Das sind die ersten Zeichen von der Ankunft des „leichten Südländers“ da oben, den das Barometer bereits mit einem Fallen begrüßt, während die Wetterfahne auf dem Dache noch gar nichts merkt und immerfort Nordost anzeigt. Aber dann fängt es bald an zu schneien, und es wird wärmer.

Auch die einfache Erscheinung der Eiszapfen hat ihre Sonderbarkeiten. Zuerst könnte man fragen, wie das Schmelzwasser des Schnees frieren kann, wenn die Luft zum Thauen warm ist. Bei thauwarmer Luft werden die Eiszapfen nicht lange fortwachsen, desto mehr aber, wenn die Sonne warm auf den Schnee und den Kopf des Eiszapfens brennt, während das Thermometer im Schatten weit unter Null steht. Die Eiszapfen sind Kinder der strahlenden Wärme, obwohl sie nur hinter ihrem Rücken wachsen. Geben weitere Schneefälle abwechselnd neues Material zum Schmelzen, so können diese Zapfen zu erschreckender Größe fortwachsen, bis sie die Aeste der Bäume niederziehen und abbrechen. Es kann dann lebensgefährlich werden, im Walde spazieren zu gehen.

Eine meisterhafte Schilderung eines jener höchst unheimlichen Eiszapfenwinter, in welchem sich die Leute kaum mehr aus den Wohnungen getrauten, hat Stifter in der „Mappe des Urgroßvaters“ gegeben. Dabei tritt zuweilen eine Erscheinung ein, die dem Laien beim ersten Anblicke ein vollkommenes Räthsel zu sein scheint: die Bildung sichelförmig gekrümmter Eiszapfen an den Baumästen. Sie entstehen sehr einfach dadurch, daß die zunehmende Schwere des Eises die Baumäste immer tiefer herunterzieht und dadurch die Verlängerungsaxe der Zapfen aus ihrer ursprünglichen Richtung bringt.

Carus Sterne.




Blätter und Blüthen.


Eine Erinnerung an David Friedrich Strauß. Es war im Jahr 1840, wenn ich nicht irre, als ich eines Abends das Hoftheater in Stuttgart besuchte. Es wurde „Don Carlos“ gegeben. Seidelmann spielte den Groß-Inquisitor, der dicke Maurer den Marquis Posa, der damalige erste Liebhaber, Moritz, den Don Carlos und Fräulein Stubenrauch, die intime „Freundin“ des verstorbenen Königs, die Königin. Die übrige Rollenbesetzung ist mir nicht mehr erinnerlich, thut auch nichts zur Sache.

Das Haus war gut besucht, und das Publicum folgte mit gespannter Aufmerksamkeit der sehr gewandten und größtentheils sehr gelungenen Darstellung. In einer der Zwischenpausen hörte ich hinter mir zwei Herren über die Vorzüge und Schwächen des Stückes ihre Ansichten austauschen. Des ganzen Gesprächs weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen, und nur eine Bemerkung, die mich besonders frappirte, ist mir geblieben.

„Was ich besonders an dem Stücke auszusetzen habe,“ sagte einer der beiden Herren, „das ist die allzu scharf zugespitzte Scenirung. Es soll zwar die Scenenfolge, bei aller Natürlichkeit im Fortgang der Handlung, überraschen, aber sie muß immer verständlich bleiben und darf den Zuhörer nicht in die Nothwendigkeit versetzen, den Faden, der die Scenen unter einander verbindet, mühselig erst wieder aufzusuchen. Der Faden muß offen zu Tage liegen, und für die Zuschauer darf es, selbst vorübergehend, keine dunklen Momente in der Handlung geben. Andernfalls entsteht eine ganz ähnliche Wirkung wie bei einem geistreichen Gedanken, den Jemand äußert, der aber so fein zugeschliffen ist, daß der Zuhörer erst auf dem Umweg der Reflexion hinter die Pointe zu kommen vermag. Ein geistreiches Wort übt nur dann eine zündende Wirkung, wenn der Sinn blitzartig klar wird. Dem Sinn erst nachgrübeln müssen, das heißt den Blitz mit der Laterne suchen.“

Ich drehte mich um, um nach dem Sprecher zu sehen. Es war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, mit geistvollem Gesicht, blaß, mager, die blonden Haare hinter die Ohren zurückgestrichen. Ein Bekannter, der neben mir saß und bemerkte, wie scharf ich den Sprecher fixirte, neigte sich meinem Ohre zu und sagte flüsternd:

„Wissen Sie, wer dieser Herr ist?“

Ich verneinte es.

„Das ist der Doctor Strauß, der Verfasser vom ‚Leben Jesu‘.“

Begreiflicherweise sah ich mir nun den Mann ein zweites Mal an. Ich hatte zwar sein berühmtes Buch damals noch nicht gelesen – ich war zu jener Zeit noch ein blutjunger Bursche und kümmerte mich um alle anderen Dinge eher als um theologische Werke – aber dem Namen nach waren mir Buch und Autor gar wohl bekannt. War doch das „Leben Jesu“ wenige Jahre zuvor wie eine Bombe mitten in die gläubige Christenheit hineingefahren und hatte unter Theologen und Laien eine Wirkung geübt, wie kein anderes, das in unserem Jahrhunderte bisjetzt erschien. Auch galt von Strauß keineswegs der alte Spruch, daß Propheten im eigenen Lande nichts gelten. Strauß galt schon damals im Schwabenlande gar viel. Seine Landsleute, die Frommen nämlich, betrachteten ihn zwar als etwas wie den Antichrist, und nur die Welt der Denker und Gelehrten würdigte seine kühne und mit bewunderungswürdigem Scharfsinn ausgeführte That nach Verdienst; allein Freund und Feind, die geistig Unmündigen wie die Mündigen, schauten mit einer Art scheuer Ehrfurcht zu dem Manne auf, der gewagt hatte, was keiner vor ihm. Man wird also begreifen, wie sehr ich meinem Glückssterne dankte, daß er mich dem berühmten Manne in so unmittelbare Nähe gebracht hatte.

Später sah ich Strauß öfter und zwar in seiner Vaterstadt Ludwigsburg, wo ich mich Berufsgeschäfte halber längere Zeit aufzuhalten gezwungen war. Ich sage mit gutem Bedacht gezwungen, weil Ludwigsburg unter allen langweiligen Orten, die es in der Alten und Neuen Welt giebt, sicher der langweiligste ist, der daher Niemanden zum freiwilligen Aufenthalte reizt. Die Stadt macht den Eindruck eines Kleides, das für den Körper, den es bedecken soll, viel zu weit ist. Ludwigsburg ist eine Soldatenstadt wie Potsdam, nur in Taschenformat. Das bürgerliche Element ist daselbst nur sehr schwach vertreten. Die Stadt gleicht einem Lager, in welchem die Zelte zu Häusern erstarrt sind. Außer Militär sieht man in den breiten, mit der Größe der Häuser in schreiendem Verhältnisse stehenden Straßen zu gewissen Tagesstunden nicht einen einzigen Civilmenschen; die paar Tausend Einwohner, die nicht dem Militärstande angehören, verlieren sich in der weitläufigen Stadt über die Gebühr. Wie die Eltern unseres Strauß dazu gekommen sind, sich in dieser Einöde niederzulassen, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß sie im sogenannten „Thal“ einen Kaufmannsladen hatten, in welchem sie Kaffee, Zucker, Specerei- und Schnittwaaren feil hielten. Sie waren wohlhabende Leute und verscheuchten durch ihr strenges Wesen oft die Kinder.

Seinen ersten Unterricht erhielt Strauß in seiner Vaterstadt. Es ist möglich, daß gerade die Langweiligkeit des Ortes, der Mangel an Zerstreuung der Entwickelung seines sinnenden Geistes günstig waren. Erst als er die lateinische Schule hinter sich hatte, kam er in das evangelische „Stift“ nach Blaubeuren und später an die Universität nach Tübingen.

Zur Zeit, als ich mit ihm seine Vaterstadt bewohnte, hatte Strauß, obgleich erst zweiunddreißig Jahre alt, schon eine reiche Geschichte hinter sich. Nicht nur hatte er außer seinem epochemachenden „Leben Jesu“, dessen erste Auflage im Jahre 1835 erschien, verschiedene andere bedeutende Werke publicirt, er war auch inzwischen Repetent in Tübingen, Professor in Maulbronn, Professor in Berlin und in Zürich gewesen. Zeitgenossen wissen sich des Spectakels zu erinnern, zu dem seine Berufung an die Hochschule der letzteren Stadt Anlaß gegeben hatte.

Während seines damaligen Aufenthalts in Ludwigsburg begegnete ich Strauß im dortigen Schloßgarten fast täglich. Er pflegte zwischen elf und zwölf Uhr, bevor er zum Mittagstisch ging, seinen Spaziergang zu machen. Er wählte dazu die abgelegensten Alleen, meist jene, welche im oberen Theile, gegen die Schorndorfer Straße zu, gelegen sind. Dort wandelte er, die Hände auf dem Rücken, den Blick sinnend vor sich auf den Boden geheftet, unter den schattigen Bäumen dahin. Für gewöhnlich lagerte auf seinem Gesichte ein starrer, man möchte fast sagen, eisiger Ernst. So etwa mag sich Schiller den Jüngling gedacht haben, der sich erkühnte, das Bild von Saïs zu enthüllen. Grüßte man ihn aber oder sprach man mit ihm, so verschwand der Ernst wie mit einem Zauberschlage, und man hatte ein von reinster Humanität durchgeistigtes, freundliches Menschenantlitz vor sich. Es ist mir nie ein Mensch vorgekommen, bei welchem solche Umwandlung so vollständig und so plötzlich gewesen wäre. Man denke sich eine nordische Winterlandschaft ohne alle Staffage und überhängt von Schneewolken, starr und regungslos. Plötzlich verwandelt sich die Scene, und man hat eine im Frühlingsschmucke prangende, von einer lachenden Sonne beschienene Landschaft des mittleren oder südlichen Europa vor sich. Nur dieses Bild vermag den Contrast wiederzugeben zwischen Strauß’ Zügen bei sinnendem Ernste und bei belebtem Gespräche.

Da ich, ohne ein Strauß zu sein, ebenfalls gern solche Spaziergänge aufsuchte, wo ich nach Möglichkeit ungestört war, so begegneten wir uns, wie schon erwähnt, ziemlich häufig im Schloßgarten. Ich hätte ihn für mein Leben gern angesprochen, enthielt mich dessen aber aus Besorgniß, zudringlich zu erscheinen.

Ich erinnere mich sehr gut noch der Worte, die ich zwei Jahre früher während eines kurzen Aufenthalts in Aarau von Heinrich Zschokke gehört hatte.

„Sie glauben nicht,“ sagte er einmal, „was ein Mensch, dessen Name in der Welt einigermaßen bekannt ist, von gewissen Besuchern auszustehen hat. Von der besten Arbeit soll man aufstehen und sich angaffen lassen, wie sich Riesen und Zwerge und Kälber mit zwei Köpfen müssen begucken lassen. Und wenn sie sich nur mit dem Ansehen begnügten! Aber da soll man auch noch reden und die plumpesten und albernsten Complimente anhören! Und was haben diese Muskitos unter den Touristen von ihren Besuchen, die sie Einem machen? Weiter nichts als ein Mensch, der in eine Bibliothek kommt, aber kein Buch aufmachen darf; er sieht nichts als – Buchbinderarbeit.“

Diese Worte prägten sich meinem Gedächtnisse tief ein, und ich hütete mich seit jener Zeit fast ängstlich, mich an berühmte Leute hinanzudrängen. obgleich ich dazu in meinem bewegten Leben vielfach Gelegenheit gehabt hätte. Auch bei Strauß hielt mich diese Scheu zurück. Mein Wunsch sollte aber doch, ohne daß ich es absichtlich herbeiführte, befriedigt werden.

Einmal, es war der erste schöne Tag nach mehrtägigem Regenwetter, ging ich wieder im Schloßgarten spazieren. Das Gras und das Laubwerk, vom Regen förmlich abgewaschen und von Staub gereinigt, prangte im frischesten Grün. Es war einer jener Auferstehungstage, wo man, vor lauter Freude am Dasein, die ganze Welt an sein Herz drücken möchte. Ich nahm mir auch vor, mich für den mehrtägigen unfreiwilligen Verzicht auf den gewohnten Spaziergang durch eine um so ausgiebigere Promenade zu entschädigen. Der Boden freilich war nicht sehr einladend dazu. Der Regen hatte die Wege ganz durchweicht. An einigen vertieften Stellen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_153.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2017)