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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Der Officier begleitete uns nun bis fast an unsere Wohnung. ‚Sie sind ein Pole?‘ fragte er mich.

Ich nickte bejahend

‚Ich habe es an Ihrer Aussprache des Französischen sogleich bemerkt,‘ sagte er. ‚Ich bin ebenfalls Pole. Sie, wie Ihre Gattin haben unklug gehandelt, sich so weit von Ihrem Hause zu entfernen. Verlassen Sie dasselbe nicht mehr, bis der Kampf zu Ende ist! Das Ende wird schrecklich sein. Adieu!‘

In unserm Zimmer angelangt, fiel meine Frau erschöpft in einen Sessel. Sie hatte sich verspätet, da man sie in dem Laden, wo sie Einkäufe gemacht, aus Furcht vor der ihr bevorstehenden Gefahr durchaus zurückhalten gewollt. Wir nahmen uns jetzt vor, den Rath des Officiers zu befolgen und das Unvermeidliche in unseren vier Pfählen geduldig und ergebungsvoll abzuwarten.

Am folgenden Tage, Freitag, wurde bereits in den benachbarten Vierteln gekämpft, und man rüstete sich in unserer Straße zum äußersten Kampfe. Gegen Abend brachte uns eine Arbeiterin aus der Nachbarschaft einen achtjährigen Knaben und bat uns, demselben ein Obdach zu geben.

‚Der Junge ist ein Idiot,‘ sagte sie. ‚Seine Mutter ist während der Belagerung gestorben; sein Vater ist seit einigen Tagen verschwunden. Vielleicht hat er die Flucht ergriffen; vielleicht ist er auf den Barrikaden gefallen. Kein Mensch weiß es, und die arme versimpelte Creatur hat Niemand, der sich ihrer annimmt; denn Jedermann ist in diesem Augenblicke nur mit sich selbst beschäftigt. Ich würde den Knaben gern zu mir nehmen; allein ich weiß noch nicht, wo ich die Nacht zubringen werde; denn in dieser Straße mag ich nicht länger bleiben. Die Angst reißt mir die Nerven entzwei. Sie sind ein Ausländer, ein Gelehrter; Sie haben nichts zu fürchten. Sie sind auch als Menschenfreund bekannt; darum wende ich mich an Sie. Erbarmen Sie sich des unglücklichen Geschöpfes und lassen Sie mich nicht unverrichteter Dinge von Ihnen scheiden!‘

Ich sah meine Frau fragend an.

‚Wie kannst Du noch zögern, Anton?‘ rief sie. ‚Ich würde keinen Hund vor die Thür stoßen, geschweige ein armes, verlassenes, unschuldiges Kind.‘

Ich drückte ihr die Hand.

Die Arbeiterin entfernte sich unter Thränen der Dankbarkeit und mit dem Versprechen, nach beendigtem Kampfe den Kleinen abzuholen.

Wir gaben dem Jungen, der uns mit seinen großen Augen gleichgültig anstarrte, zu essen und bereiteten ihm ein Nachtlager im Schlafkämmerchen meiner Kinder.

Wir thaten die ganze Nacht kein Auge zu. Am frühen Morgen begann der Kampf auf dem Bastilleplatz und zog sich immer näher, immer näher herbei. Die Kanonen donnerten; die Gewehre knatterten, und dazwischen vernahm man ein dumpfes Heulen und Schreien. Wir hielten uns still in der Schlafstube, die auf den Hof geht. Hier wimmelte es von Communards, die ab- und zuliefen und entschlossen waren, die Barrikade an der Ecke der Rue Keller, schrägüber von meinem Hause, auf’s Aeußerste zu vertheidigen. Meine Frau hatte Mühe, die Kinder zurückzuhalten, die, von Neugierde gedrängt, in’s Vorderzimmer gehen wollten, um auf die Straße zu blicken. Was den armen Simpel betrifft, so sprach er kein Wort; aber er lachte hell auf und sprang lustig in die Höhe, so oft er einen Kanonenschuß hörte.

Nach der Mittagsstunde schlug man sich bereits in unserer Straße. Der Kampf entspann sich um die Barrikade in der Rue Keller. Das Geschrei, das Geheul der Kämpfenden, das Krachen und Klirren eingeschlagener Thüren und Fenster zerfleischte fast unser Ohr. Wir glaubten, der jüngste Tag sei gekommen. Da hören wir Waffengeräusch auf der Treppe, und nach einem Augenblicke stehen sechs Versailler vor uns. Meine Frau hatte schnell die beiden Kinder in die Arme gefaßt, und nachdem ich alle Drei in die Küche zurückgedrängt, näherte ich mich den Soldaten, um ihnen zu erklären, daß ich nicht zu den Communards gehöre. Indessen bevor ich noch den Mund öffne, sagte der Anführer derselben: ‚Fürchten Sie nichts, mein Herr! Es wird Ihnen kein Leid geschehen. Wir kommen, um aus den Fenstern des Vorderzimmers die Straße von den Communards zu säubern und sie an der Flucht hinter die Barrikade zu hindern.‘

Es war dies ein junger Mensch mit schönen Gesichtszügen und schwarzen Augen, ein Marseiller, wie er mir sagte.

Ich folgte den Soldaten in’s vordere Zimmer. Sie öffneten die Fenster und schickten sich an, die Chassepotläufe aus denselben zu stecken.

‚Ist es nicht fürchterlich, ist es nicht entsetzlich,‘ fragte ich den Marseiller, der den Hahn seines Gewehrs spannte und vorsichtig aus dem Fenster lugte, ‚auf Menschen wie auf wilde Bestien zu zielen?‘

‚Man zielt auch auf uns, und wir sind ebenfalls keine wilden Bestien,‘ erwiderte er; ‚doch entfernen Sie sich vom Fenster!‘ setzte er hinzu, indem er anlegte, ‚es ist hier nicht –‘

Er konnte den Satz nicht vollenden. Eine Kugel war ihm in die rechte Schläfe gefahren. Ohne einen Seufzer auszustoßen, sank er todt zu meinen Füßen nieder und tränkte den Boden mit seinem Blute.

‚Es war eine von den weiblichen Furien, die ihn getödtet,‘ sagte einer der Soldaten, der eine hellrothe Schramme auf der Stirn hatte. ‚Sie hat sich in einen Durchgang geflüchtet.‘

Ich ging in die Küche zurück und berichtete meiner Frau von dem Vorgefallenen. Sie drückte die Kinder fester an sich und beschwor mich, bei ihr zu bleiben. Ich blieb eine Weile bei ihr; dann ging ich wieder in’s Vorderzimmer. Die Soldaten sagten mir, daß die Barrikade in der Rue Keller genommen und daß vom Bastilleplatze bis dorthin der Aufstand völlig besiegt sei. Sie verlangten ein Glas frisches Wasser und versprachen, den todten Cameraden womöglich in der ersten Abendstunde abzuholen. Sie blieben noch etwa zwei Minuten. Ich hörte nun von ihnen, daß der Gefallene Armand Meunier heiße, in der Schlacht bei Sedan mitgefochten und bis zum Friedensschluß als Gefangener in Deutschland gewesen; in vierzehn Tagen würde er seinen Urlaub angetreten haben.

‚Er war ein braver Soldat und hat ein besseres Loos verdient,‘ sagte einer von ihnen.

Ich athmete auf, als sie sich verabschiedeten.

Meine Frau und Kinder zitterten am ganzen Leibe. Sie hatten beim Oeffnen der Thür den Leichnam im Blute gesehen. Ich bedeckte diesen mit einem Teppiche und schloß die Thür ab.

Wir waren nun auf das Schlafzimmer und das Kinderzimmerchen beschränkt, was bei der schwülen Witterung lästig genug war. Wir hatten zwar noch eine Dachkammer; allein das Dach war von eingefallenen Bomben zerschmettert. Indessen hofften wir, daß sie bald den todten Cameraden abholen würden; allein schon war die Dämmerung eingetreten und Niemand ließ sich sehen. Im Hause herrschte Todesstille. Die männlichen Bewohner desselben waren nämlich sämmtlich Communards und hatten sich entweder geflüchtet, oder waren noch im Kampfe auf den Barrikaden in der Nähe des Père Lachaise begriffen. Selbst der Hausmeister, der Concierge, welcher sich ebenfalls den Communards angeschlossen, war verschwunden. Das Haus blieb also unbewacht.

Inzwischen war die Nacht herangenaht, und wir mußten endlich die Hoffnung aufgeben, den Leichnam vor dem folgenden Tage entfernt zu sehen. Meine Frau und Kinder wollten keinen Bissen zu sich nehmen und gingen zu Bett. Die Ruhe war ihnen in der That mehr Bedürfniß als die Nahrung. Den kleinen Gast aber nahm ich mit mir in die Küche, wo ich ihm sein Lager bereitete. Ich selbst setzte mich auf den Küchenherd, auf welchem ich die ganze Nacht schlaflos verbrachte. Die Nacht war schrecklich genug; denn man schlug sich jetzt auf dem Père Lachaise, auf den Gräbern und zwischen den Gräbern, deren Blumenschmuck statt des Thaues der Mainacht das Blut der Erschlagenen trank. In dieser schlaflosen Nacht hatte ich Augenblicke, in welchen ich an der Menschheit verzweifelte.

Als die Morgenröthe anbrach, war der Kampf zu Ende. Allein das Tödten hörte darum nicht auf. Was sich von den flüchtenden Communards blicken ließ und wer als Communard nur einigermaßen verdächtig war, wurde ohne Weiteres niedergeschossen und zwar ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters. Auf den entsetzlichen Kampf folgte die entsetzliche Rache der Sieger. Besonders waren an der Umfassungsmauer des Père Lachaise an jenem Sonntagmorgen die Chassepotgewehre in fortwährender Thätigkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_164.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)