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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Minuten!“ Ich eilte in’s Freie. Ohne mich mit der Besichtigung Monfalcones und seiner Thermen aufzuhalten, wanderte ich auf der nach Triest zurückführenden Landstraße wohlgemuth in den thaufrischen Morgen hinein. Die gutgehaltene Straße, welche sich anfangs zwischen fruchtbaren Gärten und Weingeländen, später zwischen Sumpfwiesen hinwindet, führte mich in dreiviertel Stunden an die Quellen des Timavo, und ich empfand die Freude, welche den erfaßt, der classischen Boden betritt.

Und classischer Boden ist die Umgebung des Timavo, denn nicht nur Virgil, sondern wohl an zwanzig Schriftsteller des Alterthums erwähnen den merkwürdigen Fluß. Er spielt bereits in den Sagen von den Wanderungen der Veneter eine Rolle; an seinem Ufer errichteten


Die Genügsame.
Originalzeichnung von Prof. Siegert.


sie dem aus dem Hercules-Mythus bekannten thracischen Diomedes, gewissermaßen als dem Patron der Pferdezucht, einen Tempel und umgaben diesen mit einem heiligen Hain, in welchem windschnelle Rosse gezogen wurden. Am Timavus tränkte der Dioskure Castor sein Roß Cyllarus; hier stritten zu Wasser die Argonauten mit den Euganeern, und es wäre ihnen übel ergangen, wenn nicht der Gott Glaucus ermuthigend sein Haupt aus dem Wasser emporgestreckt hätte. Noch im Ausgange des Alterthums bis in das Mittelalter hinein fanden sich sowohl am Timavus als auch an anderen Punkten der adriatischen Küste mannigfache Anklänge an die Argonautensage. Man zeigte einen Berg der Medea, in welchem nach dem Volksglauben eine schöne Zauberin (ähnlich der Frau Venus im Hörselberg in Thüringen) hauste, und ein Vorgebirge bei Durazzo in Albanien hieß noch um das Jahr 1107 das Cap Jason. Jetzt erinnert nichts mehr, kein Ortsname, keine Schiffersage an die Fahrt der Argoschiffer, aber vielleicht ist es den Bemühungen eines Schliemann vorbehalten, aus dem Grundschlamm des Timavo den Toilettekasten der Medea oder das Messer, mit welchem sie ihren Bruder Absyrtos abschlachtete, auszugraben.

Der Timavo würde auch dann, wenn er nicht durch die hellenische Heroensage eine Weihe empfangen hätte, allein durch seinen Anblick auf jeden, der ein Auge für Naturschönheit hat, einen unauslöschlichen Eindruck machen. Nicht in der Weise anderer Flüsse, die, aus zusammenrieselnden Wasseradern gebildet, sich meilenweit als schwache Bäche hinziehen, tritt er an das Licht, sondern er quillt, wenn auch nicht mit gewaltigem Brausen, wie Virgil singt, aus drei (nicht mehr neun) Spalten des Karstgebirges, durchfließt in ebensoviel Armen eine neunhundertachtzig Meter lange Strecke und ergießt sich dann als breiter Strom in den Meerbusen von Monfalcone.

Um einen Ueberblick über den Timavo zu erhalten, müssen wir von dem an dem rechten Ufer gelegenen Dörfchen San Giovanni ein paar hundert Schritte bergauf steigen; wir haben alsdann den gewiß seltenen Genuß, einen Fluß von seiner Quelle bis zu seiner Mündung überblicken zu können, einen Fluß, der so mächtig ist, daß er unmittelbar nach seinem Ursprunge eine große Mühle treibt und kleineren Segelschiffen Ankergrund gewährt.

Zudem war ich bei meinem Besuche des merkwürdigen Punktes von dem herrlichsten Wetter begünstigt. Eine mäßige Bora hatte kurz zuvor die Atmosphäre gereinigt; spiegelglatt lag die See, auf welcher sich winzig wie Möven die weißen Segel der Fischerbarken bewegten; scharf abgegrenzt streckten sich die Landzungen in die blinkende Fläche, und vom jenseitigen Ufer der Bucht grüßte die alte Aquileja herüber. Lange saß ich auf einem Felsblocke versunken in den Anblick des wunderbaren Flusses, und erst die höher steigende Frühlingssonne, deren Tücke im Süden mit Recht gefürchtet wird, bewog mich den Schatten einer Osteria aufzusuchen, wo ich mit dunklem Terrano (Landwein) den Argonauten, dem Trojaner Antenor, dem Sänger Virgil und nicht zuletzt meinem väterlichen Freunde in der Heimath ein reichliches Trankopfer brachte.

Der Timavo ist eines jener Naturwunder, mit denen das österreichische Küstenland und Krain so reich ausgestattet sind. Die Stalaktitengrotte von Adelsberg ist weltberühmt, auch der Zirknitzer See, in dem man fischt, jagt und erntet, ist in weiten Kreisen bekannt, aber die zahlreichen andern Höhlen, die Wasserfälle, die plötzlich verschwindenden und unvermuthet wieder zu Tage tretenden Gewässer, welche das steinige Karstgebirge zu einem der interessantesten von Europa machen, sind noch lange nicht gehörig gewürdigt worden, und doch übertreffen sie an Großartigkeit die meisten der in diese Kategorie gehörenden Naturschönheiten, welche an der breiten Touristenstraße liegen.

Zu jenen soeben erwähnten Flüssen gehört auch unser Timavo, denn sein Wasser ist kein anderes, als das durch unterirdische Zuflüsse verstärkte Wasser der Reka, welche am Mont Lissatz entspringt und bei dem vier Meilen von San Giovanni entfernten Dorfe San Canziano im Grunde eines tiefen Felsentrichters verschwindet.

Ob der Timavo in der That mit der Reka im Zusammenhange stehe, darüber war man lange im Zweifel, bis ein weiser Mann, dessen Namen ich der Nachwelt leider nicht überliefern kann, auf den Einfall kam, in die Reka bei San Canziano Korkstöpsel werfen zu lassen und am Timavo aufzupassen, ob dieselben dort wieder zu Tage kommen würden. Dies geschah

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_182.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)