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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Zu diesen zwei Fehlern des Jacob Mrauczeck kam noch ein dritter hinzu: er war eine jähzornige, gewaltthätige Natur, und wenn seine Zornadern an Stirn und Schläfen anschwollen, gingen ihm Alle gern aus dem Wege, denn dann stürzte er sich wie ein malayischer Mockläufer auf den Ersten, Besten. Nur Ein Wesen im Dorfe hatte Gewalt über ihn bei solchen Wuthanfällen und Ausschreitungen, so daß das Thierische zurücktrat und dem Menschlichen Platz machte. Vor den Blicken verstummte der tobende Sturm in seiner Seele; vor der Stimme beugte sich sein sonst unbeugsamer Trotz, und dieses Wesen war – doch dazu müssen wir achtzehn Jahre zurückgreifen.

In einer Novembernacht des Jahres 1818 hatte ein Nordweststurm ein schwedisches Barkschiff zwischen Rixhöft und Ceynowa auf eine Sandbank geworfen und zerschellt, und als die Ceynowenser am frühen Morgen an den Strand kamen, um nach gescheiterten Schiffen zu spähen und nach deren Ladung, sahen sie unter den Planken und Fässern, die auf den Wogen trieben, einen Korb mit Betten hin- und herschaukeln, und als sie ihn mit ihren Haken an das Land gezogen hatten, fanden sie ein halberstarrtes, ungefähr anderthalbjähriges Kind darin. Der Strandinspector Husen, der kurz vorher in Putzig angestellt war und hier sich seine ersten Sporen verdiente, kam gerade herbei, wickelte das Würmchen in seinen Mantel und trug es zu einem kinderlosen Ehepaare in’s Dorf. Alle Nachforschungen in Schweden blieben fruchtlos, und das Kind ward nun von Staatswegen den Leuten in die Pflege gegeben; es erhielt den Namen seiner Pflegemutter: Esther Strzellin. Hier in der Fischerhütte wuchs das Nordlandskind auf und wurde ein stilles, blondes, blauäugiges, zartgebautes Mädchen, das unter den übrigen Kindern Ceynowa’s dasselbe Schicksal hatte, wie der junge Schwan unter den Enten in Andersen’s Märchen. Jacob Mrauczeck, ihr vier Jahre älteres Nachbarskind, wußte entweder nichts von Galanterie und Ritterlichkeit gegen das schöne Geschlecht, oder er war noch nicht bis zur vierten Bitte gekommen, in der es heißt: „Getreue Nachbarn und desgleichen“, denn er führte die jugendliche Rotte Korah fast allemal an, wenn dem fremden Mädchen ein Streich gespielt oder eine Kränkung zugefügt werden sollte.

So waren neun Jahre vergangen seit jener Novembernacht 1818, in der Esther wie Moses aus dem Wasser gezogen war, als sie wieder einmal, wie sie oft that, auf der Düne saß und ihre Blicke träumerisch auf dem Meere ruhen ließ, dem großen und tiefen Grabe ihrer Eltern. Sie hört es nicht, daß Mädchen und Knaben die Rückseite der Düne erklimmen, um mit ihren Käschern nach der See zu gehen und da am flachen Strande aus dem schwimmenden Seetange Bernstein zu fischen; erst als rohe Fäuste sie fassen, springt sie auf und flieht vor ihren Quälgeistern wie ein gescheuchtes Reh. Aber vergebens.

„Werft sie in’s Meer, wo sie hergekommen ist!“ ruft Eine, und die Kinder zerren sie an den Strand und schicken sich wirklich an, ein Vorspiel zu dem neun Jahre späteren Trauerspiel aufzuführen: da giebt die Angst und der Zorn dem zarten Schwedenmädchen wunderbare Kraft, so daß sie den einen Knaben rücklings in die See stößt und dann ein Mädchen fest umklammert. Jacob reißt sie los und schleudert sie auf den Strand, aber so unglücklich, daß sie mit der Stirn in die Spitze eines Ankers fällt und aus der klaffenden Wunde das strömende Blut den Sand färbt. Als Jacob, der in Angst vor der Anklage Esther’s und vor der Strafe seines strengen Vaters zwei schreckliche Tage verlebt hatte, nach Verlauf dieser Zeit merkte, daß Esther nicht seine Anklägerin geworden war, ging eine merkwürdige Wandlung mit ihm vor; die feurigen Kohlen brannten auf seinem Haupte lichterloh; solche Großmuth brach seinen feindlichen Sinn, und aus dem Beleidiger ward ein Vertheidiger und Beschützer.

Das Meer, die ewige Thalatta, brandete weiter an Helas Küste, wie seit Jahrtausenden; aber die Jahre verrannen und die beiden Kinder wuchsen heran und hatten einander liebgewonnen; das Zarte hatte sich geeint mit dem Strengen. Die schönsten Muscheln, welche die See auswarf; das beste Stück Bernstein, das Jacob fand; die größte Steinbutte, die er fing – das Alles trug er als Tribut seiner Liebe in Esther’s Hütte, ihr Erbe nach dem Tode der Pflegeeltern. Und als er nachher als Matrose seine Fahrten auf einem Danziger Kauffahrteischiffe der Link’schen Rhederei nach England machte, brachte er in jedem Herbste dem Häuschen und dessen Herrin einen neuen Schmuck mit in bunten englischen Töpfen, Kannen, Tassen (wie man’s häufig findet in den Hausfluren der Fischerhütten der Stranddörfer) oder seidenen Tüchern. Und als er, vierundzwanzig Jahre alt, als „befahrener Mann“ für immer nach Ceynowa zurückkehrte, wanderte Esther auch nicht mehr allein zu ihrem Meersitze und die Strahlen der untergehenden Sonne färbten nicht nur die See purpurn, sondern gossen auch ihren goldenen Schein über Esther’s feingeschnittenes, rosiges Antlitz und über die wettergebräunten Züge ihres Begleiters, der zu ihren Füßen saß und in das liebe Angesicht schaute, und es war dann, als ob Freiligrath jene köstlichen Stanzen eigens für ihn und über ihn geschrieben hätte:

„So laß mich sitzen ohne Ende,
So laß mich sitzen für und für!
Leg’ Deine beiden frommen Hände
Auf die erhitzte Stirne mir.

So bin ich fromm, so bin ich stille,
So bin ich sanft, so bin ich gut!
Ich habe Dich – das ist die Fülle!
Ich habe Dich – mein Wünschen ruht!“ –

So kam das Jahr 1836; es hatte den einzelnen Fischercompagnien im Mai große Lachszüge und im Juni reichlichen Häringsfang gebracht, und so getrauten sich die Liebenden wohl einen eigenen Hausstand zu gründen, und um die Mitte des Juni sollte sie der Propst von Schwarczau zusammengeben. Darum machte sich Esther einige Tage vor dem Unglückstage von Ceynowa auf zu ihrer Freundin, der Tochter des Bliesenwärters in Rixhöft, um sie als Kranzjungfer zu werben. Mit der Braut aber war des Bräutigams guter Geist weggezogen; und als sie, von einer unerklärlichen Angst getrieben, nach dem Dorfe zurückkehrt, ist die finstere That eben geschehen. Wohl sieht sie das Kainsmal an der Stirn ihres Verlobten, wohl schaudert sie über die That; aber ihre Liebe zu dem Thäter will wenigstens das Letzte noch thun, ihn retten und dann – zu vergessen suchen. Sie hatte beim Rixhöfter Leuchtthurm ein Schiff ankern sehen, das die beim Auslaufen aus dem Danziger Hafen erlittene Havarie ausbessern ließ durch Karwenbrucher Zimmerleute. Dorthin bringt sie den Flüchtling, der dem Capitain ein willkommener Zuwachs zu seiner spärlichen Schiffsbemannung auf der Fahrt nach Amerika ist. Von dem Felsen, auf welchem der Leuchtthurm steht, war eine Bohle auf das nahe anliegende Schiff zum Ein- und Ausgehen gelegt; hier, zwischen Himmel und Meer, wird ein herzlicher Abschied genommen; Jacob springt in das Schiff, Esther aber, geistig und körperlich abgemattet, kommt über die schmale Brücke nicht mehr an’s Land; es dunkelt ihr vor den Augen, noch ein Schrei – und die gierigen Fluthen der Ostsee verschlingen wieder ein Opfer.

Noch an demselben Abend zog das Schiff seine Furchen über das Grab Esther’s; eine frische Brise schwellte seine Segel, und auf den kurzen Wogen tanzend eilte es dem Kattegat zu. Jacob Mrauczeck entging durch die Flucht wohl dem weltlichen Richter, aber er nahm in seinem Herzen einen Wurm mit sich aus der Heimath, der mit der Zeit wuchs und ein so zähes, ach so zähes Leben hatte, ja zuletzt so unerträglich ward, daß Jacob selbst Hand an sich legte. Und dieser Wurm, der nicht stirbt, war das erwachte Gewissen mit den Gedanken, die sich unter einander verklagen oder entschuldigen; das war das hispanische Hündlein, wie Josephson in seinen „Brosamen“ (einem wahrhaften Volksbuche) das Gewissen in einigen Erzählungen nennt und schildert; das waren die Schlangenzähne der Reue. Er fing Manches an in der neuen Welt, aber wenn er so weit war, daß er sagen konnte: hier ist gut sein, hier will ich Hütten bauen, dann erwachte der Wurm wieder, der nicht stirbt, und trieb ihn weiter; „das Laster treibt ihn hin und her, und läßt ihm keine Ruh’.“

Das Gewissen offenbarte sich hier wieder als jene furchtbare geistige Macht, die schon die Alten kannten und in dem Schreckbild der Furien so ergreifend ausdrückten; es offenbarte sich wieder als ein Bote, der zu Allen gesandt wird, auch zu denen, die ihn fürchten, den die Blinden sehen und die Tauben hören, der oft Jahre lang schläft, dann aber um so stärker aufwacht, wovon die Brüder Joseph’s ein Lied singen können, die nach vielen Jahren sagten: das haben wir an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_194.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)