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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Mulde, in welcher sich ein winziger Gletscher angesiedelt hat. Sie bot, seit wir das „Tiefet“ verlassen hatten, uns zum ersten Male die Möglichkeit zum Ausruhen. Während wir im Angesichte der Staffeln, die sich jenseits des Schnees bis zum Zugspitzgrat übereinanderthürmen, von den überstandenen Mühen ausruhten, begann Johannes seine Erzählung. Sie bot, mit Rücksicht darauf, daß sie über den Wolken, die das Flachland verdüsterten, gegeben wurde und der vorzüglichste Schauplatz derselben gerade vor uns lag, einen Reiz, den ich in meiner Schilderung nicht wiedergeben zu können bedauere.

Aufgang über der „Ludergrube“.
Nach der Natur aufgenommen von G. Sundblad.

Johannes begann seine Erzählung, indem er mittheilte, er habe den Gipfel der Zugspitze auf dem Wege über die Knorrhütte schon sechszehnmal erstiegen und daher bei seinem neulichen Versuche den viel kürzeren, aber auch um so viel halsbrecherischen Weg von Ehrwald aus eingeschlagen. Auf diesem die Instrumente nach dem Grat zu schaffen, ist ein Ding der Unmöglichkeit – hatten ja doch wir Mühe gehabt, die unbepackten Leiber an den Wänden glücklich vorbei zu schieben. So waren also die Träger wieder auf dem gewöhnlichen Wege nach der Knorrhütte geschickt worden, wo sie Johannes zu erwarten hatten. Dieser aber brach zu dem verhängnißvollen Gange von Ehrwald an einem Septembertage dieses Jahres um Mittag auf.

Dem Photographen hatten sich kühn die Herren Albert Reiser aus Partenkirchen, Emil Rauscher aus Württemberg und Ungelehrt aus Nürnberg angeschlossen. Vom Aufbruch an leuchtete nur eine fahle Sonne. Ein starker Westwind jagte die Wolken, und die Färbung des Himmels wie der Berge deutete auf schlechtes Wetter. Johannes gedachte noch an demselben Tage über den Zugspitzgrat hinweg die Knorrhütte zu erreichen, um am nächsten Morgen mit dem Apparat, der dorthin für ihn hinaufgeschafft worden war, die Gläser einem Gesichtskreise zuzuwenden, der den Böhmerwald wie die Bernina, die württembergische Rauhe Alp wie die Salzburger Berge umfaßt.

Bis zum Schneekar, wo Johannes uns jetzt seinen Vortrag hielt, war trotz des Weststurmes und der immer bedenklicher sich gestaltenden Wetterzeichen Alles gut gegangen. Man kümmerte sich nicht viel um das Pfeifen in den Klippen, um den blauschwarzen Hauch, der die Berge, und um den nächtlichen Farbenton, der den Eibsee überzog. Die Fährlichkeiten der Abstürze über der „Ludergrube“ (so genannt, weil in deren Tiefe oft Aas, „Luder“, von zerschmetterten Gemsen etc. gefunden wird), die Vorsprünge über den fahlen Wänden waren überwunden. Man war im Schneekar angekommen und rastete guten Muthes.

Doch war das Aussehen der Umgebung damals ein völlig anderes. Die Tiefe bedeckte nicht ein unbewegliches, glänzendes starres Meer wie jetzt, sondern es zogen Wolkenungethüme mit gewaltiger Schnelle, dem Zuge der Walküren und des Wütenheeres vergleichbar, durch die dem Scheine nach so nahen schlehfarbenen Bergengen. Ueber das Schneekar hatte sich bereits Nebel herabgesenkt – es war nicht möglich, die grauen, mächtigen Staffeln zu sehen, die sich von ihm aus bis zum Kreuze der Spitze übereinander thürmen. Da die Zeit drängte, stieg man nach kurzem Verweilen über den kleinen Gletscher des Schneekars aufwärts. An seinem oberen Ende angekommen, bemerkten die Wanderer, was ihnen bis jetzt der dichte Nebel verhüllt hatte, daß die Randkluft, durch welche der Firnschnee vom Felsen abstand, zu breit und zu tief sich gestaltet hatte, als daß sie hätte überschritten werden können. Man mußte sich deshalb von dem Gletscher wieder entfernen und seitwärts eine steile, steinerfüllte Rinne im Kalkgewände, einen sogenannten „Kamin“, aufsuchen. Jenseits dieses Kamins begann man mit dem Hinaufseilen, denn von nun an wurden, wie wir deutlich sahen, die Absätze so steil und hoch, daß es nur einem Franz Rauch und Johann Koser gelingt, hinaufzuklettern. Die Anderen müssen sich das Seil herablangen und sich hinaufziehen lassen. Nur Johannes machte von diesen eine Ausnahme. Er stieg mit den beiden Führern hinauf und verstärkte die Kraft der Ziehenden. Zuletzt wurden die Bergstöcke und Rucksäcke auf diese Weise in die Höhe geschafft.

Die Scenerie hatte sich völlig verändert. Es begann in großen nassen Flocken zu schneien. Die Sonne, ihrem Untergange nahe, blendete unheimlich roth durch schwarzes Gewölke und weißes Gestöber. Ein höllisches Licht flirrte ringsum in Luft und Schnee. Die Führer und Johannes hatten ihre Schuhe wegen der Glätte und Steilheit der Felsen ausziehen müssen. Sie zogen die Uebrigen am Seil hinauf, während sie mit den Strümpfen in jenem eisigen Brei standen, der sich rasch bildet, wenn ein mächtiges, nasses Gestöber von starkem Winde auf den Felsen gejagt wird.

Bei der fortgesetzten Wanderung wiederholte sich mehrfach das Hinaufseilen. Von einem jähen Kamin ging es in den anderen. Gegen die Höhe hin verwandelte sich der West- in einen eisigen Nordsturm. Beim „bösen Ort“, etwa eine Stunde unter dem Grat, war es ein Orkan, der die Nahenden wie mit Nadeln blendete. Die Dämmerung begann. Die gute Laune war entschwunden, und Ahnungen der Gefahr tauchten auf. Koser und Johannes kletterten voran. Rauch blieb mit den Uebrigen zurück. Plötzlich wurde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_246.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)