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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Koser buchstäblich von einem Stoß des Orkans in die Höhe, Johannes aber auf die Seite geworfen. In dieser Lage, aus welcher er sich erst nach einer Weile wieder aufrichtete, sah er unter sich in der Dämmerung die Genossen sich an den übereisten Felsen abmühen und manchmal zwischen ihren Gestalten eine Nebelbank durchjagen, aus welcher es röthlich vom letzten braunrothen Wiedersehen des westlichen Sturmhimmels flimmerte.

Johannes hatte kurze Beinkleider an, wie sie von den Holzknechten und Jägern unserer Berge getragen werden. Seine Weste hatte er, des bequemeren Steigens halber, in dem Gepäck gelassen, welches die durch das Rainthal vorausgesandten Träger nach der Knorrhütte gebracht hatten. So drangen ihm die aufgejagten Eisnadeln, vom Wüthen des Sturmes in die Höhe gehoben, unten in die Kniehosen ein und schoben sich bis zu den Hüften innerhalb der weit anliegenden Beinkleider hinauf, so daß er die weichen Massen dort mit den Fingern herausheben konnte. Der Körper begann zu erstarren; die Erschöpfung nahm zu, und weder er noch Koser hofften auf ein Entrinnen aus den Schrecknissen.

Als sie auf dem Grat ankamen, war es beinahe schon Nacht geworden. Sie befanden sich nun nahezu zehntausend Fuß über dem Meer. Niemand hätte vermocht, hier aufrecht zu stehen, so raste der Wind über die wilden Zacken. Die schmale Schneide des Grates war von Schnee überweht, von sogenannten „Gachwinden“, gebogen überhängenden Schneedächern, überdeckt.

In jedem Reisehandbuche ist zu lesen, daß der Grat links steil gegen den Eibsee etwa sechstausend Fuß, rechts ebenfalls mehrere tausend Fuß gegen den Schneeferner abstürzt und daß man schwindelfrei sein muß, wenn man denselben begehen will. Man stelle sich diesen Grat bei Nacht und von einem Sturm umwettert vor, der das Ohr betäubt, das Auge blendet und den Athem hemmt, und dazu die gefährliche Erweiterung durch die in’s Leere hinaus hängenden Schneedächer: da wird man begreifen, daß er von den halb Erstarrten auf allen Vieren durch langsames Kriechen zurückgelegt werden mußte.

Vom Grat bis zur nächsten bösen Stelle, der „Nase“, nennt man den Felsen „Schneeferner-Seite“. Hier schöpfte Johannes wieder Hoffnung auf Erhaltung des Lebens, denn sie befanden sich nunmehr wieder in Oertlichkeiten, die ihnen von früheren Besteigungen her bekannt waren, und außerdem hatten sich die wackeren Führer selbst in den Schrecknissen der Wände auf der Ehrwalder Seite so über alles Lob erhaben bewährt, daß man mit einiger Zuversicht in die wilde Schneenacht hinein bergab schreiten konnte.

Nur wegen der „Nase“ hegte Johannes noch Besorgnisse. Dies ist eine steil geneigte Felsplatte, unten in lothrechte Wände, welche zum Schneeferner abstürzen, ausgehend. Sie muß quer überschritten werden. Der locker darüber hingehäufte durchfeuchtete Schnee konnte das in der Dunkelheit zu einer gefährlichen Unternehmung machen. Aber sie gelang, und damit wuchs das Selbstvertrauen der nächtlichen Wanderer. Unterhalb der „Nase“ legte sich auch der erstarrende Nordwest; dagegen begann ein kalter Ost aus dem Rainthal heraufzuwehen. Eine andere gefürchtete Stelle, der „Kamin“, ein röhrenförmiger, steiler, mit lockeren Steinen angefüllter Abstieg, war heute leichter als sonst zu durchklettern, da er mit Schnee angeweht war. Wenn man gleich knietief darin einsank, so bot der Schnee den Füßen doch festeren Halt, als die lockeren Steine, die unter ihm den Felsboden bedecken. Ebenso glücklich wurde die steile „Sandreiße“ zurückgelegt.

Nun stand man auf dem Schneeferner. Hier wurde Rath gehalten, in welcher Weise man den Gletscher überschreiten sollte. Die Einen waren dafür, entfernt von den Wänden über ihn hinwegzugehen, um vor den Lawinen sicher zu sein, die in Folge des Schneefalles herabstürzen mußten. Die Anderen wiesen auf die Klüfte hin, die den Schneeferner durchzogen, und betonten die Nothwendigkeit, sich am Rande zu halten und die kleinere Gefahr vorzuziehen. Letztere Ansicht behielt die Oberhand. Der Ferner wurde in dichtem Dunkel an den Wänden hin überschritten, während die Wanderer vor den Graupeln, die ihnen in die Augen rieselten, die eigene Hand nicht sehen konnten. Der Führer Koser sowie Reiser brachen in Klüfte ein, wurden aber herausgezogen. Beim Schneefernereck beginnt das „Weiße Thal“, eine rauhe Geröllmulde. Hier hörte der Schnee auf und begann ein eisiger Staubregen.

Während dieser Zeit saßen die auf der Partenkirchener Seite durch’s Rainthal heraufgekommenen Führer ruhig in der Knorrhütte. Keiner dachte mehr daran, daß die Gesellschaft noch anlangen würde. Rauch’s Bruder, einer der erfahrensten Führer, sagte:

„Entweder sind sie, das nahende Unwetter verspürend, gar nicht von Ehrwald fortgegangen, oder sie sind in ihm zu Grunde gegangen. Vom Kommen ist keine Rede mehr.“

Aber sie kamen doch. Vom Weißen Thale aus rannte Johannes voraus, um durch Geschrei Leute aus der Hütte zu locken, damit sie den hinter ihm Nachschreitenden mit Laternen entgegengingen. Als nach vielem vergeblichem Rufen endlich die Leute aus der Hütte herauskamen, erschraken sie, denn ihr erster Gedanke war der an ein großes Unglück.

„Um ’s Himmels willen, was ist geschehen?“ redete Johann, Koser’s Bruder, den herannahenden Johannes an. Und dieser war fürwahr eine seltsame Erscheinung. Die gefrorene Joppe stand weit von seinem Körper ab; der Rucksack war einen halben Schuh hoch mit Eis und Schnee bedeckt; die Haare glichen weißen Drähten – die ganze Gestalt war mit Glatteis überzogen.

Ich übergehe die Schilderung des Punschabends in der Hütte und der Freude aller Anwesenden über die fast wunderbare Rettung, und komme zu der Unternehmung des nächsten Tages.

Johannes war wie gelähmt, doch unterließ er, um die großen Opfer nicht umsonst gebracht zu haben, es nicht, während der Nacht die Chemikalien zu wärmen, um mit dem Frühesten seine Arbeit beginnen zu können. Auf die Sturmnacht folgte ein frostklarer Morgen. Nun ging es, obwohl dem unternehmenden Photographen alle Glieder wie zerschlagen waren und ihn die Muskeln schmerzten, abermals dem gestern auf so entsetzliche Weise überkletterten Grate zu. Die Luft war rein, wie sie Johannes niemals gesehen hatte. Der Großglockner und der Ortler standen greifbar über dem Gewoge der ewigen Alpen.

Die Absicht, ein Bild von den Wänden aufzunehmen, die gegen den Eibsee abfallen, gelang nicht, weil der Wind auf dem Grate die Aufstellung des Zeltes nicht zuließ. Erst nachdem man einen Schneedamm als Schutzwehr gegen den Wind aufgeführt hatte, war es möglich, das Zelt in einer Nische unter dem Grate aufzurichten. Am Morgen erschienen wegen des entgegengesetzten Standes der beleuchtenden Sonne die West-, am Nachmittage die Ostalpen reiner. So stellte der jetzt von quälenden Schmerzen heimgesuchte Photograph ein prächtiges Bild jener unermeßlichen Bergwelt her, die vom Brenner bis tief in die Schweiz hinein in Giebeln aufragt und in Firnmeeren gleißt. Die Kälte, welche der chemischen Wirkung Eintrag thut und die Niederschläge krystallisiren läßt, hinderte bald den Strebsamen. Es konnten nur wenige Aufnahmen gemacht werden. Abermals durchfroren, kehrte Johannes zur Knorrhütte zurück mit dem Vorsatze, Leben und Gesundheit nie wieder seiner Kunst zu lieb auf’s Spiel zu setzen. Ich für meinen Theil bezweifle, daß er diesem Vorsatze treu bleiben wird.

Der Führer Koser war achtzig Mal auf der Zugspitze. Nach seinem Geständnisse hat er aber nie größere Gefahren bestanden als bei dieser photographischen Expedition, und hofft von seinem Schicksale, daß es ihn fortan vor einem ähnlichen Gange bewahre.




Mit Hassan beim Scheikh Ali.


(Schluß.)


Mit einem der Führer an der Spitze setzte sich der Zug in Bewegung. Hassan ging, kleinmüthig, ohne sein Gewehr, hinterdrein. Wir bogen von der Wüste ab in die Sümpfe hinein, wo uns ein wenig betretener Pfad bald an sumpfigen, schilfbewachsenen Seen, bald an grasüberwucherten Flächen vorüberführte, die früher einmal in Cultur gewesen waren. Wir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_248.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)