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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Regel erst nach gefaßten Beschlüssen die „Wirthschaft“ ihren Anfang nimmt.

So spinnt in schwerer Arbeit und kargem, zweifelhaftem Genusse auch das öffentliche Leben des sächsischen Bauern in seiner Gemeinde sich ab. Ob es ein Leben der Freiheit sei, darüber zu entscheiden, steht kaum Jemandem anders zu als ihm selbst. Jedenfalls aber ist es dieser Bauer gewesen, der im Lande die stattlichsten Dörfer gebaut, seine Kinder ausnahmslos zur Schule geschickt, dem Staate der pünktlichste Steuerzahler gewesen, die wenigsten seiner Söhne der Wehrpflicht durch die Flucht entzogen und, wo König und Vaterland gerufen, allezeit seine Treue zu Beiden auch durch mehr noch als die bloße Schuldigkeit erwiesen, obwohl er schon seit lange wenig Dank dafür zu ernten gewohnt ist.




Pariser Bilder und Geschichten.


Allerlei sonderbare Erwerbsquellen und Geschäfte.


Von Ludwig Kalisch.


Tausende und aber Tausende sehen in Paris die Sonne untergehen, ohne zu wissen, wo sie ein Nachtlager finden werden; und Viele von denen die sich endlich eine Ruhestätte verschafft, wissen nicht, auf welche Weise sie beim Sonnenaufgang zu einem Frühstücke gelangen können. Der knurrende Magen will befriedigt sein und er läßt sich nur auf einige Stunden befriedigen. Wer arbeiten will und arbeiten kann, findet am Ende doch sein Brod; allein es giebt in Paris unzählige Leute, die zu träge, um ernstlich arbeiten zu wollen, doch ehrlich genug sind, um sich nicht mit der Justiz zu überwerfen. Diese erfinden sich einen Erwerb, der keine Anstrengung erfordert, der in müßiger Thätigkeit oder in thätigem Müßiggang besteht. Ich beginne mit der Erwähnung eines Erwerbszweiges, der im eigentlichen Sinne darin besteht, die Zeit todt zu schlagen.

Meine Leser wissen, daß man in Paris vor den Theatern Queue macht. Bei gewöhnlichen Vorstellungen, bei wenig beliebten Stücken bilden sich diese Queues ungefähr eine Stunde vor der Eröffnung des Hauses und sind eben nicht von beträchtlicher Länge. Findet aber die Vorstellung einer neuen Oper oder eines neuen Stückes von einem berühmten Autor statt, so bilden sich die Queues schon in den ersten Nachmittagsstunden und dehnen sich allmählich zu einer solch kometenartigen Länge aus, daß die Spätankommenden keine Hoffnung hegen dürfen, ihre Schaugier zu befriedigen; denn der Platz, den man im Queue einnimmt, wird als ein unverletzliches Recht von Jedermann geachtet, und wer Miene macht, seinen Vordermann zu verdrängen, wird sogleich durch den allgemeinen Ruf „A la Queue!“ genöthigt, auf seinem Platze zu verharren. Die ersten Reihen der Queues sind natürlich die beneidenswerthesten. Dieselben werden nun zum Theil von Individuen gebildet, die aus dem einfachsten Grunde von der Welt gar nicht daran denken, ihre hungrige Schaugierde im Theater zu befriedigen. Sie haben nämlich bei dem größten Ueberfluß an Zeit den allergrößten Mangel an Geld. Nun giebt es aber gar viele Leute, die mehr Geld als Zeit haben und erst kurz vor der Eröffnung des Theaters sich vor demselben einfinden. Sie wollen sich nicht an’s äußerste Ende der langen Queues stellen, oder unverrichteter Sache nach Hause gehen; sie sind daher froh, wenn ihnen einer der Lungerer, der bereits drei Stunden in den ersten Reihen der Queue steht, für Geld und gute Worte den Platz abtritt. Zuweilen verkauft ein solcher Pflastertreter zwei Queue-Plätze an einem und demselben Tage. Findet nämlich die Unterzeichnung auf eine Staats- oder Stadtanleihe, oder die Auszahlung von Coupons statt, so pflanzt er sich, noch bevor die rosenfingerige Eos den Osten küßt, vor der Thür des betreffenden Hauses auf und verkauft dann seinen Platz an den Ersten, Besten, den es drängt, seinen Namen auf das Anleihen zu zeichnen, oder seine Coupons in klingende Münze zu verwandeln. Diese queuemachenden Hungerleider bilden nicht selten eine kleine Societät, die den Gewinn mit einander theilt.

Sprechen wir jetzt von einer andern sonderbaren Erwerbsquelle! Es fehlt in Paris nicht an Damen, die mit der Tugend auf gespanntem Fuße leben und denen es nicht einfällt, sich mit derselben wieder auszusöhnen. Diese Töchter Eva’s besuchen gern die öffentlichen Belustigungsplätze. Nun giebt es aber unter diesen mehrere, in welche keine Dame ohne Begleiter zugelassen wird. Eine solche isolirte Dame wendet sich daher an irgend Jemand aus dem starken Geschlechte, der gegen ein angemessenes Honorar ihr den Arm giebt. Man nennt einen solchen Menschen einen „Cavalier de dames seules“. Diese Ritter ohne Furcht und voll Tadel bilden in Paris keine unbeträchtliche Zahl. –

Es giebt Leute in Paris, die von der Reclamenmacherei leben. Sie besitzen nämlich eine große Fertigkeit im Verfassen von Anzeigen aller Art. Diese Fertigkeit findet sich nicht so häufig, wie man glaubt; denn mit den schmetternden Trompetenstößen, mit dem betäubenden Paukengerassel und den grellen Tamtamschlägen allein ist es noch nicht abgethan. Der Reclamenmacher, der aufgesucht sein will, muß eine gefällige Harmonie in seine Janitscharenmusik bringen. Die Reclame muß pikant sein und das Publicum zum Lesen derselben aufmuntern. Sie muß auch kurz und bündig sein, da man sie sonst nicht durchlesen und ihre Veröffentlichung auch zu viel kosten würde. Ein gewandter Reclamenmacher verdient daher sehr erkleckliche Summen. Er macht seinen Preis und läßt im Bewußtsein seines Talentes nicht mit sich handeln. Léo Lespès, der unter dem Namen Timothée Trimm eine Reihe von Jahren tagtäglich dem Petit Journal einen Artikel lieferte und die außerordentliche Verbreitung dieses Blättchens verursachte, Léo Lespès war der gewandteste aller Reclamenfabrikanten. Finanzmänner, Industrielle, Speculanten aller Art wendeten sich an ihn und er forderte ein Honorar, daß gar Manchem von ihnen sich das Haar zu Berg sträubte. Allein er blieb unerbittlich. Es wurde ihm nicht selten eine Reclame mit tausend Franken bezahlt.

Die Zeugenschaft bildet in Paris ebenfalls einen Erwerbzweig. Auf den Mairien bedarf man jeden Augenblick, wie bei Anzeigen von Geburts- und Sterbefällen, zweier Zeugen. Es halten sich in der Nähe der zwanzig Pariser Mairien immer Individuen auf, welche gegen eine gewisse Gebühr die Zeugenschaft verrichten.

Auf dem Gebiete der dramatischen Literatur grünt in Paris auch gar Mancher Erwerbszweig, von dem sich die deutsche Philosophie nichts träumen läßt. So giebt es hier Leute, die ein glückliches Sujet für ein Theaterstück besitzen, aber weder Zeit noch Lust, weder Talent noch Verbindungen haben, um ein Stück zu Stande und auf die Bühne zu bringen. Sie verkaufen daher dieses Sujet, das Rohmaterial, an einen bühnengewandten Schriftsteller, der es, je nach Umständen, zu einem komischen oder tragischen Werke verarbeitet. Häufiger werden die schon angearbeiteten dramatischen Rohmaterialien, die sogenannten „Scenarios“ verkauft. Dieses Wort, welchem das Wörterbuch der französischen Akademie kein Obdach verliehen, bezeichnet den ausführlichen scenischen Entwurf eines dramatischen Werkes. Die Exposition, die Schürzung und Lösung des Knotens sind genau angegeben; es fehlt nur noch die Hauptsache, der Dialog. Wer nun einen lebhaften Dialog zu schreiben weiß, aber keinen Erfindungsgeist besitzt, kauft das Scenario, versieht es mit dem nöthigen Füllsel und sucht es auf die Bretter zu bringen, welche, wie man behauptet, die Welt bedeuten. Der Besitzer eines guten Scenarios ist immer sicher, dasselbe an den Mann zu bringen. Ist es ihm nicht blos um das Geld zu thun, will er auch etwas Lorbeerduft einathmen, so verbindet er sich mit einem dramatischen Schriftsteller und hat dann die Genugthuung, neben dem Namen desselben seinen eigenen Namen auf dem Theaterzettel zu sehen. Man sieht, daß wie in den Fabriken auch bei den dramatischen Hervorbringungen eine Theilung der Arbeit stattfindet. Solche dramatische Musenkinder, die sich zweier oder gar dreier Väter erfreuen, sind nicht nur nicht selten, sondern bilden sogar die große Mehrheit unter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_258.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)