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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 17.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Liane stellte die Chocoladentasse, die sie ihm eben reichen wollte, wieder auf den Tisch – sie konnte sich nicht überwinden, sich jetzt dem Gesichte des mörderischen Mannes zu nähern, das wiederholt so sonderbar lechzend die Lippen öffnete und dann einen Moment völlig geistesabwesend niederstarrte auf die gekrümmten, krankhaft gebleichten Finger, die den Krückstock umklammerten. … Richtete sich die zertretene Lotosblume vor ihrem gänzlichen Auslöschen doch noch einmal von ihrem Marterroste auf, anklagend auf die blauen Streifen an ihrem zarten Halse deutend. … Er sah plötzlich auf, als fühle er die Augen der jungen Frau auf sich ruhen – sein Blick verschärfte sich sofort. „Nun, meine Gnädigste, Sie sehen, ich warte auf meine Chocolade – warum haben Sie sie denn wieder weggestellt? Vielleicht weil ich ein klein wenig nachdenklich ausgesehen? … Ah bah – mir war nur, als gucke dort aus der Asche in der Kaminecke ein kleiner rosenfarbener Rest.“

Es war schrecklich! Aber jetzt wurde die junge Frau erlöst – sie hörte Mainau kommen. Er trat rasch ein – welch ein Unterschied zwischen heute und jenem ersten Morgen! Sein Blick streifte nicht über sie hinweg, wie damals. Alle Vorsicht vergessend, ruhte dieser feurige Blick auf ihrem Gesichte, als könne er sich nicht losreißen. … Der alte, kranke Mann in seinem Lehnstuhle bemerkte das nicht; er saß mit dem Rücken nach der Thür – aber Frau Löhn sah plötzlich ganz bestürzt aus; sie strich aus allen Kräften mit ihren rauhen Händen über die steife, rauschende Schürze und schlug die Augen zu Boden.

„Du schon hier, Juliane?“ fragte Mainau leichthin – er sah nach seiner Uhr, als meine er, sich in der Zeit geirrt zu haben. „Hier – weshalb ich abgerufen wurde, Onkel,“ wandte er sich an den Hofmarschall und reichte ihm eine Karte hin. „Ein reitender Bote der Herzogin ist drunten und hat die Einladung zum Hofconcert für heute Abend gebracht. … Die Herzogin sprach schon gestern davon, daß ihre Lieblingsprimadonna die Residenz passiren werde, und sich bereit erklärt habe, bei Hofe zu singen. Nun ist sie einen Tag früher eingetroffen und reist morgen weiter – daher diese rasche Improvisation – nimmst Du an?“

„Ei das versteht sich! Habe lange genug in diesem einsamen Schönwerth hocken und verkümmern müssen. Du weißt auch, daß ich stets zur Stelle bin, wenn mein Hof befiehlt, und sollte ich mich auf allen Vieren hinschleppen.“

Mainau öffnete ironisch lächelnd die Thür und gab dem draußen harrenden Lakai den Bescheid.

„Mir kommt diese Zerstreuung sehr gelegen,“ setzte der Hofmarschall hinzu. „Die Verwüstung, die der Sturm diese Nacht in den Gärten angerichtet hat, verstimmt mich – dazu kommen noch allerlei unerquickliche Dinge. … Da, die Löhn“, – er zeigte, ohne hinüberzusehen, mit dem Daumen über die Schulter weg, nach der Beschließerin – „zeigt mir eben an, daß es mit ‚Der‘ im indischen Hause heute noch zu Ende gehen wird. … Ich alterire mich immer, wenn ich eine – eine Leiche auf meinem Grunde und Boden weiß; deshalb habe ich auch vor zwei Jahren den verunglückten Hausburschen sofort in die Leichenhalle der Stadt schaffen lassen – wie machen wir es nun in dem Falle?“

„Ich muß Dir sagen, Onkel – das klingt abscheulich! Das empört mir jeden Blutstropfen,“ sagte Mainau entrüstet. „Wie kannst Du über einen Menschen, der noch athmet, in einer solchen Weise verhandeln? … Haben Sie nicht sofort zum Arzt geschickt, Frau Löhn?“ wandte er sich mit sanfterer Stimme zu der Beschließerin.

„Nein, gnädiger Herr – wozu denn auch? Er kann ihr nicht mehr helfen und martert sie nur mit seinen Kunststückchen. … Ich sage, von ihrer Seele ist schon nichts mehr auf der Erde, sonst würde sie nicht mit so stillen, starren Augen vor sich hinsehen, wenn der Gabriel so entsetzlich weint und jammert –“

„Hören Sie mir auf mit dieser larmoyanten Tonart, Löhn!“ rief der Hofmarschall tief erbittert. „Wenn Sie wüßten, wie Ihrer groben Stimme das Gewinsel ansteht, da hielten Sie Ihren Mund. Ob sich Dir nun jeder Blutstropfen empört oder nicht, Raoul, darauf kann ich nicht die mindeste Rücksicht nehmen,“ sagte er in steigender Erregung zu Mainau. „In einem solchen Falle bin ich mir selbst der Nächste – meine Aversion läßt sich nicht beschreiben. – Mir graut vor jedem Athemzuge Luft, den ich einschlucken muß in solcher Umgebung. … Du sollst sehen, daß ich ein todtkranker Mensch werde, wenn Du nicht nach eingetretener Katastrophe sofort dafür sorgst, daß die Ueberreste dahin geschafft werden, wo sie für immer bleiben sollen – nach dem Stadtkirchhofe.“

Liane begriff seine Angst, das namenlose Grauen, das so wahr aus der Stimme, aus dem nervösen Schütteln des Körpers sprach. Er hatte die gemarterte Seele des unglücklichen Weibes nicht gefürchtet, so lange der schwer verletzte Körper sie niederhielt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_267.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)