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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

– nun sollte sie befreit aufflattern und, wie der Volksglaube annimmt, über dem verlassenen Leichname frohlockend kreisen, bis die Erde ihn deckte – nur das nicht auf „seinem Grund und Boden“!

„Die Frau wird in der Gruft, unter dem Obelisken schlafen,“ sagte Mainau mit ernstem Nachdrucke. „Onkel Gisbert hat sie ihrer Heimath entrissen, und sie ist die einzige Frau gewesen, die er geliebt hat – sie gehört von Rechtswege an seine Seite; und damit sei diesen herzlosen Erörterungen ein Ende gemacht!“

„Sie gehört von Rechtswegen an seine Seite?“ wiederholte der Hofmarschall unter einem heisern Auflachen. „Wage es, Raoul, und Du sollst mich kennen lernen. … Ich – hasse dieses Weib bis in den Tod. Sie darf nicht an seine Seite, und sollte ich mich dazwischen betten.“

Was war das? … Mainau sah bestürzt mit großen Augen nach diesem Greise, von dem er gesagt hatte: „Der Onkel ist geizig; er ist vom Hochmuthsteufel besessen; er hat seine kleinen Bosheiten, aber einen besonnenen Kopf, eine kühle Natur, an die nie Verirrungen schlimmer Leidenschaften herantreten durften.“ … Was war es denn Anderes, als lange verhaltene, wahnwitzige Leidenschaft, die aus diesen wild protestirenden Geberden, diesen fieberlodernden Augen so abschreckend jäh hervorbrach?

Der Hofmarschall erhob sich und ging ziemlich raschen, sichern Schrittes nach dem nächsten Fenster. Er kam dicht an Frau Löhn vorüber und streifte fast diese seine heimliche, aber unerbittliche Feindin – allein seine Augen strebten vorwärts, in’s Leere; er sah nicht, daß dieses starre, eingerostete Dienstbotengesicht auch Geist haben konnte, einen unheimlichen Geist, der dem hochgeborenen Herrn Hofmarschall auf der Ferse folgte und bedeutungsvoll auf jede seiner Fußspuren hinwies.

Der Morgenwind blies durch das halboffene Fenster herein und hob dem alten Manne das sorgfältig geordnete greise Haar auf der Stirn; aber er, der sonst jedem Luftzuge wie seinem tödtlichsten Feinde auswich, er fühlte das nicht.

„Ich begreife Dich nicht, Raoul,“ sagte er, schwer mit seiner Aufregung kämpfend, vom Fenster herüber. „Willst Du meinen Bruder in der Gruft noch beschimpfen?“

„Hat er es nicht für einen Schimpf gehalten, das Hindumädchen an sein Herz zu nehmen und ihr eine abgöttische Liebe zu weihen, so“ – der Hofmarschall lachte gellend auf. „Onkel!“ rief Mainau und wies ihn mit finster gerunzelten Brauen in die Schranken der Selbstbeherrschung. „Ich bin nur ein einziges Mal zu jener Zeit in Schönwerth gewesen; aber ich weiß, daß mir damals die Erzählungen der Schloßleute das Herz fieberisch klopfen gemacht haben. Ein Mann, der den Gegenstand seiner Leidenschaft mit solch angstvoller Zärtlichkeit hütet“ – er verstummte unwillkürlich vor der Flamme, die drohend aus den sonst so kühl und scharf blickenden Augen des Hofmarschalls brach. Er ahnte ja nicht, an was er da mit unvorsichtiger Hand rühre. Die verführerische Hülle der unglückseligen Lotosblume lag drüben „mit stillen, starren Augen“, um zu sterben, in Staub zu zerfallen, und der Mann, der sie einst mit angstvoller Zärtlichkeit auf seinen Armen durch die Gärten getragen, damit kein Kiesel ihre wunderfeine Sohle drücke, er schlief längst unter dem Obelisken – und dennoch überwältigte eine rasende Eifersucht den Verschmähten dort; er gönnte dem todten Bruder bis heute nicht, daß das glühend begehrte Weib sein eigen gewesen. …

„Diese ‚angstvolle Zärtlichkeit‘ war glücklicher Weise nicht von Dauer,“ sagte er heiser. „Der gute Gisbert ist noch rechtzeitig zur Vernunft gekommen; er hat die ‚berühmte Lotosblume‘ als – eine Unwürdige verstoßen.“

„Dafür fehlen mir die vollgültigen Beweise, Onkel –“

Als quelle die Windsbraut von gestern durch das Fenster und treibe die verdorrte, gebrechliche Höflingsgestalt vor sich her, so plötzlich verließ der Hofmarschall den Fensterbogen und stand vor seinem Neffen.

„Die vollgültigen Beweise, Raoul? Sie liegen drüben im weißen Saale im Raritätenkasten, der gestern leider das Opfer einer Attaque gewesen ist. Ich werde Dir doch wahrhaftig nicht wiederholen sollen, daß Du Onkel Gisbert’s fest und unwiderruflich ausgesprochenen letzten Wunsch und Willen gestern Nachmittag erst prüfend in den Händen gehabt hast?“

„Ist jener Zettel das einzige Document, auf welches Du Dich stützest?“ fragte Mainau kurz und rauh – der impertinente Ausfall gegen Liane hatte ihm das Blut in die Wangen getrieben.

„Das einzige allerdings – Raoul, wie kommst Du mir vor? Was soll noch gelten auf Erden, wenn nicht die eigenhändige Niederschrift des Sterbenden?“

„Hast Du ihn schreiben sehen, Onkel?“

„Nein – das nicht – ich war selbst krank. Aber ich kann Dir einen Zeugen beibringen, der es mit gutem Gewissen beschwören wird, daß er Buchstaben für Buchstaben hat niederschreiben sehen – schade, daß er vor einer Stunde nach der Stadt zurückgefahren ist. Du hast Dich zwar in neuester Zeit seltsam zu unserem Hofprediger gestellt –“

Mainau lachte fast heiter auf. „Lieber Onkel, diesen classischen Zeugen verwerfe ich hier und vor dem Gesetze. Zugleich erkläre ich die Wirksamkeit jenes sogenannten Documentes für null und nichtig und außer aller Kraft. O ja, ich glaube, daß der Herr Hofprediger bereit ist, zu schwören – er schwört bei seiner Seelen Seligkeit, daß er dem Sterbenden die Feder eingetaucht hat – warum denn nicht? Den Herren Jesuiten ist ja ein Schleichpförtchen in den Himmel garantirt, wenn sie das große Entrée der Seligen allzusehr verwirken sollten. … Ich muß mich selbst anklagen, gehandelt zu haben, wie ein Mann von Gewissen nicht handeln soll. Ich war nicht zugegen, als der Onkel gestorben ist – als Miterbe seiner reichen Hinterlassenschaft mußte ich doppelt vorsichtig sein und durfte nicht Anordnungen sanctioniren, lediglich gestützt auf ein kleines Stück Papier, das kein gerichtlicher Zeuge beglaubigt. In einem solchen Falle soll und darf man sich nur an den klaren Wegweiser des Gesetzes halten.“

„Gut, mein Freund,“ nickte der Hofmarschall – er war unheimlich ruhig geworden. Den Krückstock vor sich auf das Parquet stemmend, stützte er beide Hände darauf und ließ seine kleinen, funkelnden Augen über das schöne Gesicht des Neffen hinspielen. „Nun bezeichne mir aber auch das Gesetz, unter dessen Schutze die Frau im indische Hause steht. Sie ist vogelfrei, denn sie war nicht meines Bruders eheliches Weib. … Wenn wir uns also an den ‚klaren Wegweiser‘ halten wollten, dann hatten wir das Recht, sie sofort über die Schwelle zu stoßen, denn es existirte kein gerichtlich beglaubigtes Testament, das ihr auch nur einen Bissen Brod oder ein Nachtlager auf Schönwerther Grund und Boden zusicherte. Haben wir in dem Punkte nicht nach dem eisernen Gesetze gefragt, so sind wir in dem anderen Falle auch davon entbunden.“

„Onkel, soll das Logik sein? Also weil wir nicht teuflisch erbarmungslos gewesen sind, darum steht uns nun das gute Recht zu, nach einer unverbürgten letztwilligen Verfügung zu handeln, die eine grausame ist? … Gesetzt aber, Onkel Gisbert habe in der That das Document verfaßt und geschrieben und die Frau verstoßen, weil Gabriel nicht sein Kind gewesen, was, frage ich, gab ihm dann die Befugniß, über das Schicksal des ihm völlig fernstehenden Knaben aus eigener Machtvollkommenheit zu entscheiden? … Ich war ein noch junger, unbesonnener Kopf, als Onkel Gisbert starb. Was frug ich damals nach Gesetz und gründlicher Prüfung! – Mir genügte Deine Mittheilung, daß die Indierin eine Treulose gewesen, um mich toll und blind zu machen, denn ich hatte den Onkel innig geliebt. … Nur das entschuldigt mich einigermaßen. Später bestärkte mich der Knabe durch seine sclavische Fügsamkeit in dem festen Glauben, daß er keinen Tropfen des herrischen, stolzen Blutes der Mainaus in seinen Adern habe – ich stieß ihn wie einen Hund mit dem Fuße aus meinem Wege und habe die Verfügung, daß er Mönch werde, als vortrefflich passend, stets gebilligt – das widerrufe ich hiermit als einen beklagenswerthen Irrthum meinerseits.“

Auf diese letzten feierlichen Worte folgte eine secundenlange, athemlose Stille. Selbst Leo mochte instinctmäßig fühlen, daß im nächsten Augenblicke ein Riß durch das Haus Mainau gehen werde – er bog, seitwärts an die junge Frau geschmiegt, den Kopf vor und sah mit großoffenen, ängstlichen Augen in das tiefernste Gesicht seines Vaters.

„Willst Du die Güte haben, Dich deutlicher auszusprechen? Du weißt, mein Kopf ist alt; er faßt nicht mehr rasch; am wenigsten aber das, was nach modernem Umsturze aussieht,“ sagte der Hofmarschall. Seine hagere Gestalt streckte sich steif

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_268.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)