Seite:Die Gartenlaube (1874) 291.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

nach dem schon erwähnten Beschlusse vom 21. November 1853 das Recht, sich von der Post durch einen gewöhnlichen Commissar, dem sie ein Mandat für den speciellen Fall mitgaben, die Correspondenz an ein näher bezeichnetes Individuum ausliefern zu lassen. Erhielt die Post die Briefe später zurück, so wurden sie vor der Absendung an die Adresse mit einem Stempel versehen: „Geöffnet auf Befehl der Justiz.“ Was die Justiz mit dieser Procedur zu thun hatte, bleibt dabei freilich ebenso ein Rätsel, wie auf welche Art der Cassationshof sein Verdict mit Artikel 187 des Strafcodex in Einklang brachte, worin „jeder Beamte oder Agent der Regierung oder Postverwaltung, der bei Unterschlagung und Erbrechung von Briefen hülfreiche Hand leistet, mit sechszehn bis fünfhundert Frcs. Geldstrafe, mit Gefängniß von drei Monaten bis zu fünf Jahren und mit Entziehung der Fähigkeit, ein Amt zu bekleiden, auf fünf bis zehn Jahre“ bedroht wird.

Daß neben dieser brutalen Maßregelung des Briefgeheimnisses übrigens noch außerdem das schwarze Cabinet arbeitete, haben wir schon bewiesen. Man bediente sich desselben hauptsächlich in den Fällen, in denen man die Oeffentlichkeit scheute oder erst allmählich den Urhebern mißliebiger Mittheilungen in der auswärtigen Presse auf die Spur kommen wollte. Die meisten Berichterstatter ausländischer Blätter wußten ein Lied davon zu singen.

Ebenso ist die Thatsache bekannt, daß das schwarze Cabinet ganz vorzüglich in Thätigkeit war, wenn die Legitimisten nach Frohsdorf oder die Orleanisten nach Claremont wallfahrteten. Die beliebteste Methode der Brieferbrechung war, wie wir schon angedeutet, das Aufschneiden einer Seite des Couverts mit einem Rasirmesser. Nachdem der durchgelesene Brief wieder in das Couvert gesteckt war, wurde die aufgeschnittene Seite mit einer aufgelösten Papiermasse bestrichen, welche schnell trocknet und nicht die leiseste Spur des Verbrechens zurückläßt.

Nun, das kaiserliche Gebäude ist ist Trümmer gelegt; das schwarze Cabinet aber glaubte selbst der große Republikaner Gambetta nicht entbehren zu können. Derselbe hatte während des deutsch-französischen Krieges ein schwarzes Cabinet in Tours errichtet. Demselben stand ein „Prévòt Civil“ vor. Das Document, worin derselbe zur Verletzung des Briefgeheimnisses ermächtigt wurde, lautet: „Kriegsministerium. Herr Dutré, der der Residenz der Regierung attachirte Prévôt Civil, ist ermächtigt, auf der Post die Auslieferung aller Briefe zu requiriren, deren Adresse er angiebt. Tours, 17. November 1870. Der Minister des Innern und des Krieges.“

Daß sich auch die Commune des schwarzen Cabinets bediente, auch dafür haben sich in Paris nach ihrer Niederwerfung die Beweise vorgefunden. Im Posthôtel wurde das Geschäft in großartigem Maßstabe, gerade wie unter dem zweiten Empire, betrieben. Ja, bei der Mehrzahl der Briefe gaben sich ihre Beamten nicht einmal die Mühe, sie wieder zu verschließen; man warf sie einfach zu Hunderten und Tausenden in’s Feuer.

Der zunehmenden Immoralität der französischen Regierung des zweiten Kaiserreichs gegenüber blieb den Regierten nur der Eine Trost, daß die riesigen Proportionen, in denen der Briefverkehr zunahm, am Ende den Kunststücken das Cabinet noir und der geheimen Polizei in Bezug auf Schändung des Briefgeheimnisses eine Grenze ziehen müßten. Da die Post von Frankreich schon unter Louis Napoleon jährlich über siebenhundert Millionen Stück Briefe beförderte, so stand die Spionage zuletzt rathlos vor einer physische Unmöglichkeit; sie würde selbst nicht mehr Kenntniß von dem Inhalte der Briefe nehmen können, wenn dieselben, wie unter Ludwig dem Ersten, offen zur Post gegeben werden müßten.

E. K.




Eine Sitzung des Reichstages.


Die beiden Berliner „Häuser“. – Die Räume des Sitzungssaals im Reichstagsgebäude. – Delbrück. – Forckenbeck. – Schulze-Delitzsch – Löwe-Calbe. – Franz Duncker. – Kirchmann. – Ziegler. – Moritz Wiggers. – Hoverbeck. – Eugen Richter. – Albert Traeger. – Die Socialisten. – Die Nationalliberalen. – Lasker. – v. Treitschke. – Bamberger. – Das schwarze Centrum. Windthorst, Mallinckrodt, Majunke und die übrigen Mitglieder des Centrums. – Professor Ewald und die Elsässer. – Die Rechte. – Die Debatte um die Militärvorlage.


Wenn wir in Berlin durch die Leipziger Straße gehen, so bemerken wir in der Nähe des Kriegsministeriums zwei große Gebäude, denen man trotz ihres stattlichen Aeußeren schwerlich ihre hohe Bestimmung ansieht. Das eine dieser Häuser war einst im Besitze der mit Geist und Glücksgütern so reich gesegneten Familie Mendelssohn. In denselben Räumen, worin einst der geniale Felix seine ersten Compositionen vor einem auserlesenen Familienkreise aufgeführt, wo die Elite der Berliner Gesellschaft, Männer wie Zelter, Alexander von Humboldt und der junge Heine, Frauen wie Rahel, Bettina und die schöne Herz, verkehrt hat, hält jetzt das preußische Herrenhaus seine Sitzungen und statt der musikalen Harmonien, statt der Ouverturen zum „Sommernachtstraum“ und zu den „Hebriden“, statt der geistreichen, humanen Gespräche über Kunst und Literatur hört man jetzt die oft verletzenden Dissonanzen der politischen Debatte und die nichts weniger als humanen Reden des Herrn von Kleist und des Grafen Brühl. Weit bedeutender ist das daran stoßende Haus, worin sich noch vor Kurzem die königliche Porcellan-Manufactur befand, da in demselben gegenwärtig der deutsche Reichstag provisorisch sich niedergelassen hat, nachdem durch einen nothwendigen Umbau ein der hohen Würde der Versammlung einigermaßen entsprechender Sitzungssaal hergestellt worden ist.

Erst wenn wir, mit der nöthigen Eintrittskarte versehen, durch das hohe Portal in das Innere treten, wo uns der Portier und Constabler empfangen und die in den Gängen aufgestellten Diener uns zurecht weisen, erkennen wir die öffentliche Bedeutung des Hauses, das sich äußerlich wenig oder gar nicht von der Wohnung eines reichen und angesehen Privatmannes unterscheidet. Wir steigen zunächst einige Treppen zu der bereits mit Zuhörern überfüllten Tribüne empor, von der aus wir den noch leeren Sitzungssaal mit Bequemlichkeit übersehen können. Derselbe ist höchst einfach, aber mit Geschmack decorirt. Die Wände sind dunkelblau, ohne allen Schmuck, außer einer großen schwarz-weiß-rothen Fahne mit in Gold gestickter Inschrift, einem Geschenk der deutschen Frauen in Amerika, und einer gerade dem Präsidentenstuhle gegenüber befindlichen Uhr. Für Beleuchtung und Ventilation ist hinlänglich gesorgt, weniger für die Akustik, welche vieles zu wünschen übrig läßt.

In der Mitte der durch einige Thüren mit den verschiedenen Bureaus verbundenen Hauptseite erhebt sich der erhöhte Präsidentenstuhl mit den Sitzen der Schriftführer; vor demselben sehen wir die Redner-Tribüne und die Tische der Referenten und Stenographen, woran sich die Bänke für die Vertreter des Bundesrathes anschließen. An ihrer Spitze sitzt gewöhnlich Bismarck’s rechte Hand, Herr Dr. Delbrück, einer der bedeutendsten Regierungsmänner, ein organisatorisches Talent ersten Ranges und auch ein sachgemäßer Redner, der den Reichskanzler in allen wichtigen Verhandlungen zu vertreten pflegt, wenn dieser am Erscheinen verhindert ist. Rings um den Saal ziehen sich von drei Seiten die Tribünen für die Zuhörer, welche jedoch nur selten ausreichen, die königliche und Diplomaten-Loge, die Tribüne der Abgeordneten und der Journalisten, in der die Vertreter der Presse den Verhandlungen mit gespannter Aufmerksamkeit folgen und dieselben mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und möglichster Genauigkeit wiedergeben, was nur durch die ausgezeichnete Organisation und Theilung der Arbeit möglich ist. Als Vertrauensmann der Presse fungirt Herr Moritz Gumbinner, der besondere Reichstags-Correspondent der Kölner Zeitung, neben welchem Herr Oldenberg, der Herausgeber der lithographirten Reichstags-Correspondenz, als einer unserer geistreichsten Journalisten vorzugsweise unsere Beachtung verdient.

Nach und nach erscheinen einzelne Abgeordnete in dem leeren Saale, während die Mehrzahl noch ist den Gängen und in der großen, mit sinnigen Sprüchen gezierten Halle in eifrigem Gespräche auf- und niedergeht oder in der anstoßenden Restauration behaglich frühstückt, um sich für das schwere Werk zu stärken. Hier findet man die Mitglieder aller Parteien, die sich feindlich

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_291.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)