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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

gegenüberstehen, jetzt friedlich an demselben Tische, wo Centrum- und Fortschrittsmänner, Nationalliberale und Conservative die bekannte, gemüthliche Fraction Müller oder Rubin bilden, welche ihren Namen keinem berühmten Führer, sondern dem jedesmaligen Wirth der Restauration verdankt. Hier werden auch die Neuigkeiten des Tages harmlos erzählt, gute und schlechte Witze gerissen, aber auch manche ernste und bedeutende Worte gesprochen. Zur bestimmten Stunde erscheint der Präsident des Reichstags in Begleitung der Schriftführer, welche seinen Generalstab bilden. Herr von Forckenbeck, der statt des Jubiläums-Präsidenten Simson augenblicklich diese hohe Würde bekleidet, ist eine allgemein beliebte, von allen Parteien hochgeachtete und auch den maßgebenden Kreisen angenehme Persönlichkeit, ein angehender Fünfziger, mit intelligenten, freundlichernsten Zügen. Bekannt als einer der vorzüglichsten freisinnigen Redner im preußischen Abgeordnetenhause, zeichnet er sich in seiner jetzigen Stellung durch seine seltene Unparteilichkeit sowie die parlamentarische Sicherheit und Geschicklichkeit, womit er die oft schwierigen Debatten leitet, vortheilhaft aus. Bewunderungswürdig sind die Klarheit seiner Fragestellung, der Aufbau und die lichtvolle Anordnung, die er dem oft kaum zu bewältigenden Stoffe zu Theil werden läßt. Forckenbeck ist ein scharfsinniger Jurist, ein bedeutendes organisatorisches Talent; früher Rechtsanwalt in Elbing, ist er seit 1873 Oberbürgermeister von Breslau und als solcher Mitglied des preußischen Herrenhauses.

In diesem Augenblicke ordnet er mit den Schriftführern die eingegangenen Anträge und nimmt die Wünsche der verschiedenen Abgeordneten und Regierungsbevollmächtigten entgegen, bevor er mit der Glocke das Zeichen zum Beginne der Sitzung giebt. Unterdessen suchen auch die Abgeordneten ihre Plätze auf. Bekannte begrüßen sich; Parteigenossen treffen Verabredungen, und es vergeht noch einige Zeit, bevor die nothwendige Ruhe und Sammlung eintritt. – Die Sitze der Abgeordneten bilden gewissermaßen einen großen unregelmäßigen Fächer, dessen Stäbe die schmalen Gänge darstellen, in denen man sich frei bewegen und leicht von einer Bank zur andern gelangen kann. Vor jedem Sitze befindet sich ein besonderes Pult zum Schreiben. Die Parteien und Fractionen sind so vertheilt, daß auf der rechten Seite des Saales die Conservativen und die deutsche Reichspartei, in der Mitte das Centrum und die Polen, auf der Linken die Nationalliberalen, die Fortschrittspartei und Socialdemokraten ihre Plätze haben, obgleich diese Ordnung nicht immer streng beobachtet wird.

Wenden wir zunächst unsere Blicke nach der linken Seite, so begegnen wir manchem alten Bekannten und lieben Freunde unserer Gartenlaube. Gleich in der vordersten Reihe sehen wir Schulze-Delitzsch in eifriger Unterhaltung mit Löwe-Calbe. Der berühmte Vater der deutschen Genossenschaften zeigt noch immer in seiner kräftig gedrungenen Erscheinung die unverwüstliche Kraft und Frische seines Geistes, so daß die Jahre spurlos an ihm vorüberzugehen scheinen. Auch sein Organ hat nicht gelitten und nichts von seiner hinreißenden Gewalt verloren, wenn er auf der Tribüne steht. Ebenso hat sich Löwe-Calbe wenig oder gar nicht verändert, höchstens daß sich die Spitzen seines dunklen Haars und Bartes ein wenig grauer färben. Beide gleichen zwei sturmerprobten Eichen, um die sich der jüngere Nachwuchs schaart. Dort jener interessante Kopf mit langem, weißem Haar und Bart, die seltsam mit dem noch jugendlichen, scharf geschnittenen Gesichte contrastiren, gehört dem bekannten Herausgeber der Volkszeitung, die soeben ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert hat, dem Vorsitzenden des großen Berliner Handwerkervereins – Franz Duncker, In seiner Nähe sitzen der Präsident Kirchmann, ebenso ausgezeichnet als tüchtiger Jurist, wie als philosophischer Schriftsteller, und der frühere Bürgermeister Ziegler aus Brandenburg, der populäre Verfasser des „Landwehrmann Krille“, ein echter Märker, zäh und elastisch, spitz und stachlig wie die Kiefern der Mark, wovon so mancher Gegner, und vor Allem der verstorbene Cultusminister von Mühler ein Lied zu singen weiß. Mit Vergnügen sehen wir unsern alten Freund Moritz Wiggers, den Mitbefreier Kinkel’s, und Herrn von Hoverbeck, den treuen Ekkard der Fortschrittspartei. Aber auch der junge Nachwuchs ist in die Höhe geschossen, vor Allen der stattliche Eugen Richter, früher das enfant terrible der Fraction, jetzt aber ein gefürchteter Gegner der Regierung, der durch seine gediegenen Sachkenntnisse in allen Finanzfragen, besonders bei der Feststellung des Budgets und neuerdings bei der Militärvorlage sich verdientermaßen die größte Anerkennung erworben hat; ferner der ehemalige Kreisrichter Ludolf Parisius, bekannt durch seine geistvolle Broschüre: „Ein Minister, der seinen Beruf verfehlt hat“, der humoristische Hausmann, der dem kleinen Fürsten von Lippe auf die Finger sieht, Herz aus Baiern, den der dritte Berliner Wahlkreis an Hoverbeck’s Stelle gewählt, ein sprechender Beweis, daß Nord und Süd sich die Hand zum Bruderbunde reichen, der gute Eberty, ein feingebildeter Publicist und Kenner der italienischen Literatur, und last not least der liebenswürdige Dichter der Gartenlaube Albert Traeger, dessen mit vielem Beifalle angenommene Jungfernrede den Beweis liefert, daß unser Freund nicht nur ein vortrefflicher Dichter, sondern auch ein ausgezeichneter parlamentarischer Redner ist.

Auf dem eigentlichen Berge der Linken thronen die Herren Socialisten Hasenclever, Hasselmann, Vahlteich etc., meist noch junge und ganz manierliche Leute, die bis jetzt durch ihre Reden und besonders durch ihre geschichtlichen Citate nicht gerade Furcht erregt haben. In ihrer Mitte bewegt sich der elegante Herr Sonnemann aus Frankfurt am Main, ein interessanter Kopf mit sorgfältig frisirtem Scheitel und dichten Bartcoteletten à l’anglaise, der Aristokrat seiner Partei, der mehr nach Eau de Colgogne als nach Petroleum zu riechen und lieber Champagner als Blut zu vergießen scheint, weshalb er den Namen eines Social-Aristokraten mit vollem Rechte verdient. Ursprünglich Kaufmann, vertauschte später Herr Sonnemann den Courszettel mit der Feder, wurde ein geistreicher und pikanter Journalist und gründete als solcher die Frankfurter Zeitung, welche gegen die preußische Regierung eine scharfe Opposition unterhält. Außerdem wirkt Herr Sonnemann für den Deutschen Arbeiterverband und für Elsaß-Lothringen im föderalistischen Sinne. Consequenter Weise stimmte er, obgleich er Israelit ist, mit den Ultramontanen gegen den bekannten Kanzelparagraphen und das Jesuitengesetz.

Auch unter den zahlreich vertretenen Nationalliberalen begrüßen wir manchen alten Bekannten, den unermüdlichen, redegewandten und durchaus braven Lasker, den Schrecken aller modernen Gründer, die beiden unzertrennlichen Dioskuren Bennigsen und Miquel und den berühmten Professor Gneist, gleich ausgezeichnet als geistvoller Jurist wie als parlamentarischer Redner. Unter den jüngeren oder neugewählten Notabilitäten der Partei bemerken wir Herrn von Treitschke, der, abgesehen von seinem schriftstellerischen Ruf, unwillkürlich unser Interesse in Anspruch nimmt. Obgleich er an schwerer Taubheit leidet, folgt er mit Hülfe seines Nachbars und Freundes, des Doctor Wehrenpfennig, der ihm fortwährend schriftliche Mittheilungen über die stattfindenden Verhandlungen macht, dem Gange der Debatte mit gespannter Aufmerksamkeit. Zuweilen ergreift er selbst das Wort und entwickelt eine unter diesen Verhältnissen doppelt überraschende Beredsamkeit. Zwar zeigt sein Organ eine gewisse Schwerfälligkeit, seine Sprache etwas Monotones, man möchte sagen Accentloses; auch stören die eigenthümlichen, fast krampfhaften Bewegungen seines sonst nicht unschönen Kopfes, aber nichtsdestoweniger fesseln seine stets gedankenreichen, gediegenen Worte, wenn sie auch mehr den Eindruck geistvoller Essais als parlamentarischer Reden machen. Jener hochblonde blasse Herr ist Ludwig Bamberger, eine Autorität in allen volkswirthschaftlichen und Finanzangelegenheiten, da er, früher Advocat, als Flüchtling in Paris ein großes Bankhaus leitete, worin er sich die nöthigen praktischen Kenntnisse erwarb, um als Redner und Schriftsteller in allen socialen Fragen eine entscheidende und beachtungswerthe Stimme abzugeben. Ein gleiches Ansehen genießt auf dem Gebiete der kirchlichen Gesetzgebung Professor von Schulten aus Bonn, der eifrige Freund und Verteidiger des Altkatholicismus, dem würdig der jüngere Professor Hinschius aus Berlin zur Seite steht. Der Letztere hat im Bunde mit dem süddeutschen Abgeordneten Völk, der einer der muthigsten Streiter in dem großen Culturkampfe gegen die römische Kirche ist, das neue Ehegesetz eingebracht. Außerdem besitzt gerade die nationalliberale Partei einen Ueberfluß an bedeutenden Talenten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_292.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)