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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Erde wogte jenes glänzende Flimmern, das schleierartig die Contouren verwischt. Dort hinter dem regungslosen Parkteiche ballten sich die majestätischen Lindenwipfel des Maienfestes zu dunklen, gestaltlosen Massen; in ihrem Schatten verschwand das Fischerdörfchen so spurlos, als habe eine Riesenfaust die fürstliche Spielerei auf den Grund des Gewässers versenkt. … Liane wußte nicht, daß dort zum ersten Male ihr Name vor der Herzogin genannt worden war, daß man „die Gräfin mit den rothen Flechten“ unter jene Linden beschworen hatte, um sie ein jahrelang genährtes Rachewerk wider Willen ausführen zu lassen. Dennoch wandte sie, in sich hineinfröstelnd, den Kopf weg; der ungeheure, nachtschwarze Baumcomplex und die bleifarbene, todtenstille Wasserfläche gaben ein gespenstiges Bild. Die junge Frau hatte ohnehin mit unheimlichen Empfindungen zu kämpfen. Sie wußte, daß in dem Glaswagen, der weit vor ihnen Schönwerth zurollte, auch der Hofprediger saß; er war dem Hofmarschall wie sein Schatten gefolgt. Sie hatte ihn vom Garderobezimmer aus einsteigen und den Schlag zuwerfen sehen. … Dieser entsetzliche Priester war bereits da, wenn sie das Schönwerther Schloß zum letzten Male betrat; er hatte in der That die Kühnheit, die zähe Beharrlichkeit, mit der das Raubthier seinem Wilde auf der Ferse folgt. … Eine heiße Angst überlief sie, als der Wagen den Wald verließ und in das liebliche, von Mondlicht erfüllte Schönwerther Thal hinabbrauste. Dort unten flog eben die Equipage des Hofmarschalls hin; man sah die Glasfenster aufblinken, ehe sie hinter dem Maßholderbusch verschwand. Liane mußte all ihren Muth, ihre Vernunft aufbieten, um Mainau nicht zu bitten, daß er an Schönwerth vorüberfahre und sie noch in dieser Nacht nach Wolkershausen bringe. …

In dem Augenblicke, wo der Wagen vor dem Schlosse hielt, stand Frau Löhn, wie aus der Erde gewachsen, am Schlage. „Seit einer Stunde ist Alles vorüber, gnädige Frau,“ flüsterte sie mit fliegendem Athem. „Der mit dem geschorenen Kopfe ist vorhin auch wieder mitgekommen. Er ist im Stande und verlangt mir heute Nacht noch die Schmucksachen für den alten Herrn ab; das erste Mal ist’s auch so gewesen.“

„Ich komme,“ sagte Liane. Sie sprang aus dem Wagen, während Frau Löhn über den Kiesplatz nach dem indischen Hause zurückkehrte. Jetzt trat ein schwerer, ein furchtbarer Moment an die junge Frau heran: sie mußte Mainau den Vorgang an Onkel Gisbert’s Sterbebette mittheilen; sie mußte ihm Alles sagen, was sie wußte, dann sollte er mit ihr hinübergehen und das verhängnißvolle, kleine, silberne Buch selbst an sich nehmen.

Er hatte die Beschließerin nicht bemerkt und führte Liane ahnungslos nach ihren Appartements. Beide prallten zurück, als sie aus dem blauen Boudoir in den anstoßenden Salon traten – auf dem Tische, inmitten des Zimmers, brannte eine Lampe, und daneben stand der Hofmarschall, aufrecht, in kerzengerader Haltung, nur die Rechte leicht auf die Tischplatte stützend.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich in Ihre Räume eingedrungen bin,“ sagte er mit monotoner, kalter Höflichkeit. „Aber es ist zehn Uhr vorüber. Ich war im Zweifel, ob Ihr Gemahl geneigt sein würde, mir heute noch einige Augenblicke, behufs einer Auseinandersetzung, zu gewähren, und da es geschehen muß, so habe ich es vorgezogen, ihn hier zu erwarten.“

Mainau ließ den Arm seiner Frau fallen und trat mit festen Schritten auf den alten Herrn zu. „Da bin ich, Onkel! Ich wäre auf Deinen Wunsch auch sehr gern hinaufgekommen. Was hast Du mir zu sagen?“ fragte er gelassen, aber mit der Haltung eines Mannes, der nicht gewillt ist, sich irgend eine Ungehörigkeit bieten zu lassen.

„Was ich Dir zu sagen habe?“ wiederholte der Hofmarschall mit unterdrückter Wuth. „Vor allen Dingen möchte ich mir den Titel ‚Onkel‘ verbitten. … Du hast, wie Du heute Morgen selbst sagtest, zwischen Dir und Deinen Standesgenossen das Tischtuch zerschnitten. Ich stehe aber zu ihnen mit Kopf und Herzen, mit Gut und Blut; der Riß trennt Dich mithin auch von Deinem Vatersbruder, unwiderruflich und für immer.“

„Ich werde den Verlust zu tragen wissen,“ versetzte Mainau mit tieferblaßtem Gesichte, aber ruhiger, klarer Stimme. „Die Zukunft wird zeigen, was Du gewinnst, indem Du alles auf eine Karte setzest. Ein sogenannter guter Freund raunte mir in aller Eile zu, als ich das herzogliche Schloß verließ, Du seiest um meinetwillen eclatant in Ungnade verfallen“ – bei dem so ruhig ausgesprochenen Wort „Ungnade“ hob der Hofmarschall aufschreckend die Hände, als wolle er die Bezeichnung der furchtbaren Thatsache hinter die Lippen des Sprechenden zurückdrängen – „eine solche erbärmliche, kleinliche Revanche, an einem Unbetheiligten verübt, kann höchstens Ekel erregen, und Du hast nichts Eiligeres zu thun, als Deine einzigen Verwandten abzuschütteln, mit Allem zu brechen, was Deinem Leben, Deiner einsamen Zukunft in Wirklichkeit einen Zweck, einen Halt zu geben vermag? Und das muß unerbittlich zur Stunde, noch in dieser Nacht geschehen, damit Du morgen in der Frühe Deine völlige Lostrennung von ‚den Tiefgefallenen‘ rapportiren und um Gotteswillen die Wiederkehr der herzoglichen Gnade erbitten kannst?. … Was verlierst Du denn an –“

„Was ich verliere?“ schrie der Hofmarschall. „Das Augenlicht, die Lebensluft! Ich sterbe, wenn diese – diese fürchterliche Ungnade auch nur Monate andauert. … Wie Du darüber denkst, ist Deine Sache – ich scheere mich nicht darum.“ Er taumelte, unfähig sich länger auf den Füßen zu halten, in den nächsten Lehnstuhl.

Mainau wandte ihm in unverhohlener Verachtung den Rücken. „Dann bleibt mir freilich kein Wort mehr zu sagen,“ murmelte er achselzuckend. „Ich hatte gemeint, noch einmal an die großväterliche Liebe für Leo appelliren zu müssen –“

„Aha, da sind wir ja bei dem Punkte angekommen, der einzig und allein mich vermocht hat, noch einmal mit Dir zusammen zu treffen. … Mein Enkel, das Kind meiner einzigen Tochter –“

„Ist mein Sohn,“ unterbrach ihn Mainau, sein Gesicht ihm voll zuwendend, mit tiefer Ruhe. „Er bleibt selbstverständlich bei mir.“

„Mit nichten! … Für die erste Zeit magst Du ihn nach Franken schleppen – das kann ich freilich nicht verhindern; aber schon nach einigen Monaten wirst Du erfahren, was es heißt, Mächtige im weltlichen und im geistlichen Regimente brüsk herauszufordern.“


(Fortsetzung folgt.)




Die Wallfahrt zu Birkenstein.


Wieder einmal ein Bild aus dem bairischen Hochlande, eine Capuzinerpredigt zu Birkenstein. Dieses Oertchen liegt im Miesbacher Gericht, ganz nahe bei dem Dorfe Fischbachau, an den Füßen des almenreichen Breitensteins, der ein Nachbar des gefeierten Wendelsteins ist. Unten im Thale fließt die Leizach, ein rascher Bergbach, der von Bairisch-Zell herausrinnt. Gegen Abend, über dem Romberg drüben, fluthet der rühmlichst bekannte Schliersee, an welchem Schliers, das alte Dorf, liegt. Wer eine gute Karte zur Hand hat, wird das betreffende Oertlein nach diesen Angaben leicht zu finden wissen, wer nicht so wohl versehen, der muß sich mit dem Bewußtsein begnügen, daß er jetzt in die Gegend zwischen der Isar und dem Inn geführt wird.

Diese Gegend ist eigentlich das bairische Arkadien. Land und Leute sind hier noch eines alpenhaften Schlags. Ersteres, das Land nämlich, wird dieses Gepräge wohl immer bewahren, obwohl die neu erstehenden Villen, Fabriken und Hüttenwerke dem bäuerlichen Aussehen der Landschaft doch etwas Eintrag thun. Wie es nachgerade mit den Leuten gehen wird, ist eine andere Frage, doch muß man zugestehen, daß sie trotz des Fremdentrosses, der jeden Sommer durch ihre Thäler wimmelt, bisher noch immer nicht merklich aus der Art geschlagen sind. Hier ist der Ursitz des Haberfeldtreibens, jenes bäuerischen Vehmgerichts, das, einst so geachtet und gefürchtet, erst in den letzten Zeiten zu roher Ausgelassenheit heruntersank und vor wenigen Jahren mit sanfter Gewalt unterdrückt wurde.

Seit etlichen Jahren geht eine Eisenbahn von München

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_302.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)