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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

über Holzkirchen nach Miesbach und Schliers. Der bewegliche Münchener genießt jetzt das lang ersehnte Vergnügen, in drei kurzen Stunden mitten im bairischen Hochlande zu sein. Doch sprechen wir zunächst von Miesbach, dem trefflichen Markte an der Schlierach.

Wer ein altes Oertlein in junger Blüthe zu sehen wünscht, der muß eigentlich nach Miesbach gehen. Da ist in den letzten Jahren, seit nämlich die Eisenbahn an dem Markte vorüberzieht, ein schwer zu zählender Haufe neuer Häuser aus dem Boden gewachsen, fast alle im zierlichen Alpenstile, alle mit sanft gesenkten Dächern, mit grünen Altanen, mit grünen Fensterläden, alle so jugendlich, so heiter und lachend, daß man sie kichern zu hören glaubt. Wie sich von selbst versteht, haben sich auch die Gasthäuser und die Wohnungen für die Sommergäste in dieser Zeit entsprechend gemehrt und vergrößert. Jetzt herrschen da in den schönen Monaten noch die biedern Münchener, welche die Nähe, die Billigkeit des Ortes und die gute Luft anzieht, doch werden auch andere anständige Deutsche, ja sogar Engländer und Amerikaner zugelassen. Socialer Herd und Horst des aufstrebenden Fleckens ist aber der Frau Waitzinger ehrenwerther Gasthof, welcher an dem schönen Marktplatze steht. Frau Waitzinger theilt mit ihrer berühmten Collegin, der Frau Ruch, genannt Tiefenbrunner, zu Kitzbichel, den guten Ruf, eine treffliche Wirthin zu sein – mit dieser theilt sie aber auch einen leisen Widerwillen gegen ihr eigenes, nämlich gegen das schöne Geschlecht, wie es jetzt die Welt durchläuft, ein Gefühl, an das ich mich, wenn ich Wirthin wäre, vielleicht auch bald anschließen würde. Wenn den Herren, heißt es, in der Frühe die Schuhe gewichst oder geschmiert sind, so hört man den ganzen Tag nichts mehr von ihnen, die Damen aber läuten alle fünf Minuten. Frau Ruch-Tiefenbrunner sieht ihren Schwestern aus Berlin, Hamburg oder Bremen, wenn sie im Reisewagen daherrollen, von Weitem schon an, ob sie viel oder wenig Prätensionen machen werden. Besorgt sie Ersteres, so spricht sie einfach: Kein Quartier, und dreht sich um, auch wenn das ganze Haus noch leer wäre.

Um aber wieder in unser Miesbach zurückzukehren, so hat man in neuerer Zeit gefunden, daß daselbst eine vortreffliche Luft wehe; namentlich überarbeitete Geschäftsleute und Staatsmänner, die an geschwächten Nerven leiden, erhalten hier rasch wieder die alte Frische. Mit Stolz erzählt man, daß ein berühmter Professor der Würzburger Hochschule einst, an seinem Wiederaufkommen fast verzweifelnd, so schwach bei Frau Waitzinger angekommen sei, daß man ihn in seine Stube tragen mußte, und dennoch drei Wochen später so rüstig auf die rothe Wand, über sechstausend Fuß hoch, gestiegen sei, daß ihm selbst jüngere Leute kaum nachkommen konnten. Hierher und nur hierher, meint man, sollte unser Bismarck kommen – nur hier würde er seine Kraft und Schlagfertigkeit wiederfinden, an welcher dem ganzen deutschen Reiche so viel gelegen ist. Wenn man nur eine Zeitung fände, die ihn darauf aufmerksam machen wollte! – Auch der ehrwürdige Clerus hiesiger Gegend würde auf seine Anwesenheit nicht störend einwirken, da er Charaktergröße nicht nur an sich selber, sondern auch an Anderen zu ehren weiß.

Von Miesbach fährt man in einer starken Viertelstunde nach Schliers am Schliersee, der zweiten Hauptstation, der wir einige Aufmerksamkeit erweisen müssen.

Der Stamm, der diese idyllische Gegend bewohnt, ist ein Kernvolk; schlank und hochgewachsen, im Ganzen wohlgestaltet, hält der Schlierser wie die Schlierserin sehr viel auf ein sauberes Feiertagsgewand und weiß sich überhaupt gut zu präsentiren. Er ist ehrlich und menschenfreundlich, auch viel weniger roh, als der Bauer im Flachlande. Er theilt zwar die cholerische Natur der Bajuvaren überhaupt, allein er ist auch versöhnlich. Am Sonntag Abend, wenn das Nationalgetränk zu wirken beginnt, kommt es zwar nicht selten zu heftigen Reden, welche leicht zu Thätlichkeiten führen; allein die handelnden Personen des Dramas stechen nicht mit dem Messer zu, wie anderswo, sondern hauen sich ein paar Püffe um die Ohren, setzen sich dann wieder zusammen und gehen in alter unerschütterter Freundschaft auseinander.

Die Untugenden, die man diesem Völklein vorwerfen möchte, fallen nicht schwer in’s Gewicht. So soll es z. B. etwas bequem sein und die Ruhe der Arbeit merklich vorziehen, allein da Getreidebau nicht getrieben wird und die Viehzucht weniger anstrengt, so hat man sich hier auch nicht so zu plagen, wie im Unterland. Die viele Muße erlaubt in der That ein menschenwürdiges Dasein und giebt selbst Raum für literarische Beschäftigung. Man wendet hier nämlich manche Stunde an die Zeitungen, und die Postexpedition zu Schliers giebt täglich über fünfzig Blätter aus. Auch die Gartenlaube ist da nicht unbekannt. Manche bäuerliche Hofherren in dieser Gegend kaufen sich sogar Bücher und lesen sie – ein Brauch, der in der Stadt so selten vorkommt, daß er auf dem Lande um so mehr überrascht.

Für eine andere Untugend möchte man die etwas stark hervortretende Lebenslust ansehen. Zwar führt der Bauer annoch einen sehr einfachen Tisch, begnügt sich die ganze Woche, wie sein Hausgesinde, mit Milch- und Mehlspeisen, Butter, Schmalz und Brod, nimmt an Sonntagen im Wirthshause zwar gern ein Würstchen zu sich, weil dies die Sitte mild beurtheilt, hält sich aber von theuren Speisen, als z. B. von Kalbs- und Schweinebraten fern, weil ihr Genuß als eine Verschwendung gilt, die dem Landmanne nicht wohl anstehe. Das edle Trinkvergnügen wird dagegen an Sonn- und Feiertagen mit großer Beflissenheit sowie ohne bestimmtes Maß betrieben, und auch der Minderbemittelte nimmt daran redlich Theil, was ihm um so eher erschwinglich, als selbst der Tagelöhner täglich sich fast auf drei Gulden hinaufarbeiten kann.

Es ist in den jüngsten Zeiten aufgefallen, daß unsere Hochländer, die doch so frisch und aufgeweckt sind und nur liberale Zeitungen lesen, beim letzten Wahlkampf für’s deutsche Reich sich auf die Schattenseite stellten. In der Nähe betrachtet, sieht aber die Sache nicht so seltsam aus. Kaiser und Reich und die Hauptstadt Berlin, sie liegen dem Bauern noch ziemlich fern. Die letzten drei Jahre haben noch nicht viel vermocht gegen die Traditionen eines fast tausendjährigen Particularismus. Die Dinge, die sich im entlegenen Norden abspielen, sie erregen den Landmann nicht dergestalt, daß er sich bewogen fühlte, eine bestimmte Stellung zu ihnen einzunehmen. Er hätte am Ende auch liberal gewählt, wenn man zur rechten Zeit etwas dazu gethan hätte. So kam aber der Clerus den Liberalen zuvor, schlug mit Meisterschaft die große Trommel und rief: Nicht lutherisch werden! Dieses Mal haben es übrigens die Frauen durchgesetzt. Auf der Kanzel und im Beichtstuhl wurden die weiblichen Herzen durch den bevorstehenden Einsturz der katholischen Religion beängstigt, welcher nur beschworen werden könne, wenn die gläubigen Lande ihre gläubigsten Vertreter nach Berlin entsenden würden.

Vor dem Tage der Wahl gingen die geistlichen Herren noch von einem Hause zum andern, spielten die letzten Schrecknisse aus und ließen in den Händen der Hausfrau den rettenden Wahlzettel zurück. Die Frauen lagen dann den Männern an, setzten ihnen die politisch-religiöse Lage nach jenen Offenbarungen auseinander und baten sie schluchzend und weinend, nicht mit den Ketzern zu gehen, sondern zum Herrn Pfarrer zu halten, von dem der Wettersegen, Kindstaufe, Hochzeit und letzte Oelung abhänge. So gaben denn die meisten Männer nach und erklärten öffentlich, das heißt im Wirthshause: am Hausfrieden sei ihnen mehr gelegen, als an der Reichstagswahl. Auch den Wirthen wurde erheblich zugesetzt. Sie sind ohnedem schon lange das Augenmerk der ultramontanen Agitationen. „Wenn Ihr diese und diese Zeitung nicht abschafft,“ heißt es, „so werden wir Euer Herrenstübel nicht mehr mit unserm Besuche beehren, und wenn Ihr öffentlich zu den Liberalen haltet, so werden wir Euch heimlich in unaufsichtlichen Bann thun.“ Der Wirth hält auf sein Herrenstübel und auf sein Gewerbe natürlich auch viel mehr, als auf die Reichstagswahl, und so schließt er sich, obwohl widerwillig, dem großen Haufen an. „Als Staatsbürger,“ sagt er dann unter vier Augen, „bin ich liberal, aber als Geschäftsmann darf ich’s mit dem Pfarrer nicht verderben.“

Am kürzesten hat sich neulich ein Landmann folgendermaßen ausgedrückt: „Liberal sind wir wohl Alle, aber wählen thun wir schwarz.“ In den kleineren Städten und Märkten wird ohnedem jeder Gewerbsmann und jeder Händler bald den geistlichen Herren in die Hände gefallen sein, da die katholischen Casinos, die man überall gegründet hat oder zu gründen sucht, immer auch Handel und Wandel katholisiren und die Hartnäckigen, die nicht beigehen wollen, auch vom commerciellen Verkehre ausschließen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_304.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)