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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Ellen ging stumm mit schwankenden Schritten; sie konnte nicht mehr gute Nacht sagen.

Als der Vater den kleinen Felix, der wie Espenlaub zitterte, hinauftrug in die Kammer, sagte dieser mit Thränen in den Augen: „Du wirst sehen, Papa, Ellen muß sterben.“




Der Baron Bisam hauste fast wie ein Einsiedler in dem alten verwitterten Schlosse Ebensee. Er hatte Niemanden bei sich als eine taube Haushälterin und einen uralten Diener, der seinem Herrn im Alter wenig nachstand und ebenso kindisch war wie der gnädige Herr, den unser Herrgott vergessen hatte von der Welt abzurufen. Der Verwalter wohnte im Dorfe und führte Rechnung für seinen Herrn, der reiche Forsten und viele hundert Morgen Felder besaß. Er selbst kümmerte sich um nichts mehr auf der Welt als um seine Münzsammlung, für die er sein altes Leben gelassen hätte, wenn sie mit ihm gegangen wäre in’s Jenseits. Im Sammeln alter Münzen war der Alte von Ebensee unermüdlich, und seine Gedanken drehten sich nur um diese seine Welt. Es hatte sich in seinem Gehirne eine Art Manie festgesetzt, die den Mittelpunkt seiner geistigen Thätigkeit schon seit langen Jahren bildete. Er wußte nicht mehr, wie alt er war. „Fast hundert,“ sagte er, wenn man ihn fragte.

An dem verrosteten Klingelzuge am Schlosse zog, einige Tage nach den eben erzählten Begebenheiten, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, der einen langen schwarzen Bart trug. In seinen braunen Augen blitzte froher Muth, und ein etwas schwärmerischer Zug um den Mund ließ ihn jünger erscheinen, als er war.

Der uralte Diener öffnete und fragte mit einem faden Lächeln nach seinem Begehr.

„Ich wünsche den Herrn Baron Bisam zu sprechen,“ erklärte bescheiden der Ankömmling.

„Droben bei seinen Kindern,“ sagte der Alte mit einem schlau sein sollenden Lächeln, indem er mit den beiden Zeigefingern eine kreisende Bewegung machte. „Frau Mike wird Sie hinaufführen.“ Dann fügte er noch leise hinzu:

„Haben Sie einen?“

„Was für einen?“

„Einen Nero?“

„Ist mir unverständlich.“

„Wird schon werden. Gehen Sie nur!“

Frau Mike, eine uralte Person mit schneeweißen Haaren, führte unsern Geist, denn er war es, die alte Eichentreppe hinauf und suchte in seinen Zügen zu lesen, was ihn wohl herführe.

Felix redete sie freundlich an, indem er sie auf die Schulter tippte und sagte:

„Es geht eben etwas langsam im Alter, gute Frau.“

„Ein neues Kleid, meinen Sie?“ antwortete sie mitleidig lächelnd. „Es ist wenigstens seine vierzig Jahre alt.“ Sie hatte aus seiner Handbewegung die Frage nach dem Alter ihres Kleides geschlossen.

Er rief ihr jetzt laut in das Ohr: „Können oder wollen Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen bei dem gnädigen Herrn? Ich bin ein Bewerber um den Schuldienst in Ebensee.“

„Ein Gerber sind Sie aus Ebensee?“ war die erstaunte Antwort. „Dann müssen Sie wohl noch nicht lange in das Dorf gezogen sein; mir ist nichts von Ihnen bekannt. Nimmt mich Wunder, was Sie bei dem Baron wollen. Haben Sie vielleicht in einer Lohgrube Münzen gefunden?“

„Nein,“ sagte er lachend und schüttelte den Kopf.

„Dann haben Sie einen ‚Metzgergang‘ gemacht,“ meinte die Alte mitleidig.

„Einen Metzgergang als Gerber?“ murmelte Felix leise und klopfte an die bezeichnete Thür.

„Herein!“ schnarrte eine unangenehme Fistel.

Der Unterlehrer von Ebensee befand sich in einem hohen gewölbten Gemach mit zwei Fensterstöcken, durch deren bleiumrahmte kleine Fenster das Morgenlicht fiel. Der Baron, ein gebücktes Männchen mit einem weißen Haarkranz unter dem schwarzen Hauskäppchen, schlittete in ungeheueren Filzschuhen in dem Gemache auf und ab und warf die Schöße seines Schlafrockes immer wie fröstelnd übereinander. Von Zeit zu Zeit blieb er vor einem riesigen Secretäre stehen, in dem eine Unmasse kleiner Fächer sich befand, so daß er mit seinen Aufschriften auf Porcellan fast einem Arzneikasten glich.

Er schien den Eingetretenen schon wieder vergessen zu haben, denn er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und sein wasserfarbenes Auge streifte den Besuch so kalt, als ob er ein Luftgebilde wäre, durch das er hindurchsähe. Endlich schien er sich zu finden und schnarrte:

„Wie heißen Sie?“

„Felix, gnädiger Herr,“ war die Antwort.

„Felix – der Glückliche,“ murmelte der alte Baron und schien an diesen Namen eine lange Reihe von Gedanken zu knüpfen, denn er schlittete wieder emsig murmelnd auf und ab.

„Wie noch?“ fragte er endlich. „Den Geschlechtsnamen meine ich.“

„Kaiser, Herr Baron.“

„Kaiser? Kaiser Nero?“ entfuhr hastig den Lippen des Alten. Doch besann er sich gleich wieder und sagte wie entschuldigend: „Ich muß immer an ihn denken. Aber –“ und er trat eilfertig näher – „haben Sie vielleicht einen?“

„Was für ‚einen‘?“ fragte Felix erstaunt, wie vorher unten am Schloßthore.

„Einen Nero meine ich, haben Sie keinen Nero?“ fragte der Baron ungeduldig.

Felix vermochte die Frage nicht zu fassen. Dann glaubte er endlich den Sinn derselben zu verstehen und sagte bescheiden:

„Der kärgliche Gehalt eines Unterlehrers erlaubt den Luxus eines Hundes nicht.“

Mit kindischem Erstaunen betrachtete ihn der alte Baron von oben bis unten und schien nicht zu begreifen, wie man mit solch einem langen Barte so einfältig sein könnte.

„Einen Kaiser Nero meine ich, erklärte er endlich.

„Ich habe noch nicht die Ehre, die Frage des gnädigen Herrn zu begreifen.“

„Nun, so will ich sehr deutlich sein,“ sagte der Alte wichtig. „Ich suche schon viele Jahre nach einem Goldstücke aus der Zeit und mit dem Bildnisse des Kaisers Nero. Es gehört zur Vervollständigung meiner Sammlung, und ich habe keine Ruhe, bis ich einen Nero habe.“

„Nero, Nero,“ schnarrte auf einmal eine sonderbare Stimme aus der Ecke des Gemachs, so daß Felix erstaunt herumfuhr.

Er mußte unwillkürlich lachen, als er eine Dohle herbeihüpfen sah, die unermüdlich „Nero, Nero!“ knarrte und die scharfen Augen auf die glänzenden Stiefeln des Besuchers richtete, um diese gleich nachher mit ihrem Schnabel zu bearbeiten.

„Mein kleiner Nero,“ sagte kindisch lächelnd der Baron und ließ die Dohle eine Krume Brod von seinen Lippen nehmen. „Sie erinnert mich immer an das, was mir fehlt.“ Dann schlittete er, mit der Dohle auf der Hand, wieder auf und ab und sagte wie zu sich selber: „Ja, der Graf Hinko drüben auf Hackenburg, der hat einen herrlichen Nero, und ich soll ihn erben, wenn er stirbt. Aber er ist fast dreißig Jahre jünger als ich – und ich bin fast hundert,“ sagte er mit weinerlicher Stimme. – „Ja, was wollen Sie denn,“ wandte er sich endlich wieder an Felix, den er eine Zeitlang vergessen hatte, „wenn Sie keinen Nero haben?“

Dem Bewerber war es ziemlich schwül und unheimlich zu Muthe hier, in diesem engen Gemache bei dem kindischen Alten und seiner boshaften Dohle. Doch wagte er einen Anlauf und sagte laut: „Ich bin gegenwärtig Unterlehrer in Ebensee, wie der gnädige Herr wohl wissen, und da der Schuldienst erledigt ist, bitte ich geziemend, der gnädige Herr Baron möchte ihn mir kraft seiner Patronatsgerechtigkeit übertragen. Hier ist meine Supplik mit den nöthigen Zeugnissen. Er zog ein Paket aus der Rocktasche und überreichte es dem Patronatsherrn, der es mit einer wichtigen Miene entgegennahm und dann kurz sagte:

„So? Richtig. Wie alt sind Sie denn?“

„Dreißig Jahre, gnädiger Herr.“

„Ein halbes Kind noch,“ murmelte der Alte und betrachtete dann wie erstaunt den langen schwarzen Bart. „Haben Sie gar nichts mitgebracht?“ forschte er weiter.

„Ich besitze nichts als meinen guten Namen und sehr gute Zeugnisse. Belieben der Herr Baron nur zu lesen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_349.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)