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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

fängt die Sache an, so entsetzlich tragisch zu werden, daß nur das objective Imperfectum am Platze ist. In Leopoldina – so erzählten übereinstimmend alle Zurückgekehrten – wies man etwa achtzig Familien einen mit Schilf bedeckten Schuppen an, in welchem Männer, Frauen und Kinder ungetrennt nebeneinander lagerten. Wenn es regnete, floß es in Strömen durch’s Dach. Dann jagte man uns in den Urwald, um Wege zu bauen. Hier war nun erst die rechte Hölle. Sechs bis zwölf Familien zusammen, lagerten wir in den Negerhütten, die Tags nicht vor der glühenden Sonne, Nachts nicht vor Thau und Regen schützten. Rings um uns her war eine uns vollkommen fremde Natur. Affen hockten auf den Bäumen und warfen mit Aesten nach unseren Kindern; Schlangen lauerten in jedem Busche, und was das Schlimmste war, eine Unzahl Insecten peinigten uns Tag und Nacht. Aasfliegen setzten sich in die Augen- und Ohrenhöhlen, ja selbst in die Mundhöhle, legten dort ihre Eier und brachten so Würmer hervor, welche die fürchterlichsten Schmerzen erzeugten. Sandflöhe ferner krochen unter die Nägel und hoben dieselben ab.

Kein Wunder, daß unter solchen Umständen Krankheiten nie aufhörten und die Colonisten schaarenweise starben. Einen Arzt oder Apotheker hat Niemand gesehen. Hautkrankheiten und Fieber waren die größte Plage. Dabei war die Kost in jeder Beziehung unzulänglich. Bohnen, Mehl und getrocknetes Fleisch war das Einzige, was wir erhalten konnten. Alles war furchtbar theuer, so daß wir mit dem jämmerlichen Tagelohne von fünfundzwanzig Silbergroschen bis einen Thaler zwei Silbergroschen durchaus nicht auskamen und Hunger litten. Bohnen kosteten beispielsweise fünf Silbergroschen, Mehl vier Silbergroschen das Pfund. Wir Männer arbeiteten mehrere Meilen von Leopoldina entfernt und mußten Alles von dort herbeischaffen. Manche baten sich Land aus und klagten dem Director der Colonie, daß man sie betrogen habe. Letzterer aber fragte, ob sie Contracte hätten, und erklärte Anderen, sie müßten erst auf den Knieen zu ihm kommen, ehe sie Land erhielten. Dasselbe Unglück wiederholte sich auf der Colonie Moniz, welche im Gegensatze zu Santa Leopoldina Privateigenthum ist und dem Herrn Egoz Moniz Baretto de Aragao gehört.

Auch hier wieder hat es den Auswanderern – von Schule und Kirche natürlich ganz abgesehen – an allem Nothwendigsten gefehlt, nur sind die Krankheiten hier in der Nähe des Mangrove-Sumpfes noch entsetzlicher gewesen. Land haben sie dort allerdings in Hülle und Fülle bekommen, aber durchaus unfruchtbares. Der Boden – eine dünne Schicht Humus auf Quarzsand und Grauwacke, mit Eisen vermischt – hat selbst für Mais und die gewöhnlichsten Getreidearten nicht die erforderlichen Voraussetzungen enthalten.

Im Laufe weniger Wochen sind auf der Colonie Moniz von etwa zweitausend Colonisten circa hundertdreißig gestorben. Daß unter diesen Umständen von Reinlichkeit und Moralität gar keine Rede sein konnte, liegt auf der Hand.

All’ dieses Elend, dem die Einwanderer schließlich durch das Dazwischentreten des deutschen Consuls in Rio de Janeiro entronnen sind, haben jene Unglücklichen neben ihrer eigenen Leichtgläubigkeit zunächst dem speculativen Geschicke einiger deutschen (!!) Auswanderungsagenten zu verdanken. Bedenkt man, daß in den letzten zwei Jahren über zweitausend Deutsche so aus der Heimath, aus größtentheils ganz leidlichen Verhältnissen, gelockt sind, um in fernen Landen einem finanziellen Ruine, dem Tode oder doch mindestens der Zerrüttung ihrer Gesundheit entgegenzugehen, so kann man nicht hart genug über diese Handlungsweise urtheilen. Wollte man selbst den kaum denkbaren Fall annehmen, daß diese Expedienten von dem eigentlichen Zustande jener Colonie keine der Wahrheit gleichkommende Vorstellung gehabt hätten, so verdient mindestens die Gewissenlosigkeit gebrandmarkt zu werden, mit der sie in’s Ungewisse hinein Versprechungen gaben, die zu erfüllen sie gar nicht versuchten.

Welch ein Glück, daß des deutschen Reiches Macht überhaupt im Stande ist, seine irregeleiteten Unterthanen aus solchen Höllen zu befreien! Schmach und Schande aber über jenen Krämergeist, dem wenige Silberlinge höher stehen, als das Wohl und Wehe von Tausenden seiner Landsleute!




Das Schooßkind der Deutschen Baltimores.


In der aufblühenden Großstadt am Patapsco, die seit vielen Jahren mit Stolz den Namen „Stadt der Monumente“ trägt, hat die deutsche Bevölkerung kürzlich einen Bau aus der Erde steigen lassen, welcher wohl mit Recht als ein neues Monument bezeichnet werden darf, als ein Denkmal, das der Deutsche der Humanität auf fremder Erde errichtete.

Dieses Denkmal ist das Allgemeine deutsche Waisenhaus, eine Heimstätte für die Kinder, welche der sterbende Emigrant an einem Gestade zurückläßt, wo eine fremde Sprache geredet wird, wo die verschiedensten Nationalitäten untereinander gewürfelt sind und das arme vater- und mutterlose Kind allein und ohne Schutz umherirren würde, wenn nicht deutsche Hände dasselbe in ihre Obhut nähmen und für dessen Pflege und Erziehung Sorge trügen. Mancher Emigrant langt sterbend in amerikanischen Häfen an. Bereits vom Alter geschwächt, ergreift er noch den Wanderstab und tritt die Reise nach dem Lande an, dessen Name seit einem halben Jahrhundert wie ein Zauberwort durch Europa gehallt und Manchem ein Bild aus „Tausend und einer Nacht“ vor die Augen gegaukelt, aber nur sterbend erreicht er das Land der Verheißung. Welch ein Trost erblüht ihm jedoch noch in der letzten Stunde, wenn er weiß, daß seine Kinder nicht verlassen das Gestade der neuen Welt betreten, sondern eine Heimath finden, wo ihnen keiner der Stürme, denen die Einwanderer in Amerika so oft ausgesetzt sind, Etwas anhaben kann! Wenn aber Jemand dafür gepriesen zu werden verdient, daß den Kindern der Deutschen, die auf den Friedhöfen der Monumentenstadt kühle Ruhestätten gefunden, eine Zuflucht bereitet wurde, so ist es die ganze deutsche Bevölkerung Baltimores, denn jeder deutsche Adoptivbürger hat zum Gelingen des Werkes beigetragen. – Das Deutschthum Baltimores, welches gegenwärtig ungefähr achtzigtausend Seelen zählt, spielte vor vierzig Jahren eine sehr untergeordnete Rolle. Von den Hunderten deutscher Vereine und Gesellschaften, die zur Zeit existiren, war damals noch keine Rede. Es war nichts vorhanden, was ein geistiges Band um die deutschen Einwohner Baltimores hätte schlingen können, weder ein Gesang- noch ein Bildungsverein, weder eine Unterstützungs- noch eine Versicherungsgesellschaft, weder eine deutsche Sparbank noch ein deutsches Zeitungsblatt. Eine deutsche Wochenschrift war allerdings, so unglaublich dies auch klingen mag, bereits im Jahre 1792 unter dem Namen „Maryländer Bote“ erschienen, doch nach kurzer Dauer wieder eingegangen. Der erste größere Verein, welcher in Baltimore in’s Leben trat, war der „Liederkranz“, ein seit achtunddreißig Jahren bestehender Gesangverein, der noch heute unter den vielen, später entstandenen ähnlichen Organisationen den ersten Rang einnimmt. Diesem Vereine folgten bald andere.

Die Einsetzung einer deutschen Loge der „Odd Fellows“ gab Veranlassung zur Gründung neuer geheimer Orden und Gesellschaften, und seit zwanzig Jahren schossen derartige Körperschaften massenhaft aus der Erde. Es giebt gegenwärtig in Baltimore „Freimaurer“, „Tempelritter“, „Sonderbare Brüder“, „Ordenssöhne der Freiheit“, „Harugari“, „Pythias-Ritter“, „Johanniter“, „Schwarze Ritter“, „Rothmänner“, „Druiden“ und unzählige andere geheime Orden, die ausschließlich wohlthätige Zwecke verfolgen. Vor zwölf Jahren zählte Baltimore schon mehr als hundert deutscher Vereine und Gesellschaften, aber selbst damals existirte noch kein Band, welches sich gemeinsam um die Organisationen schlang und die Deutschen Baltimores näher aneinander brachte. Der gebildete deutsche Einwohner war Mitglied der größeren Gesangvereine und der „Baltimorer Schützengesellschaft“, auf deren Park in diesem Sommer das erste Bundesschießen des „Nordöstlichen Schützenbundes“ stattfindet; Derjenige dagegen, welcher keinen Anspruch auf höhere Bildung machte, „belongte“ (wie es auf gut Deutsch in den Vereinigten Staaten heißt) zu dieser oder jener Loge und hielt sich den Gesangvereinen meistens fern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_360.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)