Seite:Die Gartenlaube (1874) 361.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Erst dem Jahre 1863 war es vorbehalten, die verschiedenen deutschen Elemente näher aneinander zu bringen, indem in diesem Jahre der Grund zu einer Anstalt gelegt wurde, welche im Laufe der Zeit der Liebling, das Schooßkind und sogar der Stolz des ganzen Deutschthums Baltimores geworden ist – wir meinen das Allgemeine deutsche Waisenhaus. Keine von Deutsch-Amerikanern in’s Leben gerufene Anstalt, selbst in New-York, St. Louis und Chicago nicht, ist von allen Seiten so thatkräftig unterstützt worden, wie die obige Anstalt, deren Name schon besagt, daß dieses Unternehmen, soweit es die Unterbringung und Versorgung der Waisenkinder anbetrifft, dem ganzen deutschen Publicum der Monumentenstadt zu gute kommt, weil die Anstalt weder unter der Controle, noch unter dem Einflusse einer besonderen Gemeinschaft steht.

Seine ursprüngliche Gründung verdankt das Waisenhaus Herrn Martin Kratt, einem lutherischen Geistlichen Baltimores. Derselbe organisirte am 12. Juli 1863 in Verbindung mit mehreren Mitgliedern seiner Gemeinde einen Waisenverein, aus welchem eine Anstalt unter dem Namen „Das deutsche protestantische Waisenhaus“ hervorging. Das junge Institut hatte in den ersten Jahren seines Bestehens mit vielen Mühsalen zu kämpfen, und die Gründer wurden bei dem materiellen Ringen um die Existenz desselben häufig von Zagen ergriffen, aber stets rafften sie ihren Muth auf’s Neue wieder zusammen. Am 8. November 1863 ward das erste Gebäude für die Anstalt angekauft. So dürftig dasselbe auch anfangs eingerichtet wurde und so sehr man sich in jeder Weise einschränkte, so hatte man doch mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, um die fällig werdenden Rechnungen zu bezahlen, denn bei dem Ankauf des Gebäudes hatte man nicht den kleinsten Fond in den Händen gehabt. Herr Kratt sah bald ein, daß das schöne Werk in Trümmer zusammensinken müsse, wenn es nicht zum Eigenthum der ganzen deutschen Bevölkerung gemacht werde. Jetzt trat eine neue Aufgabe an die Männer heran, deren Entschluß feststand, den Waisen eine Heimath zu schaffen; es galt, das Waisenhaus auf der Basis der Gleichberechtigung aller Confessionen neu zu begründen. Der Lösung dieser Aufgabe traten neue Schwierigkeiten in den Weg; man hatte mit Vorurtheilen zu kämpfen, und die Gründer waren sogar persönlichen Verfolgungen ausgesetzt. Nach und nach lernte man jedoch die Verdienste der Männer, welche so warm für die Sache der Waisen stritten, würdigen, und die Klippen, die sich anfangs um das Unternehmen aufgethürmt hatten, schwanden allmählich. Die Gesuche um Aufnahme mehrten sich, und als die Zahl der Kinder von acht auf vierunddreißig angewachsen war, stellte sich die Nothwendigkeit heraus, ein größeres Haus anzuschaffen. Lange mußte man jedoch suchen, ehe man ein geeignetes Gebäude fand. Endlich erstand man ein geräumiges dreistöckiges Haus an der Nord-Calvertstraße um den Preis von sechszehntausend Dollars. Mehrere Vereine und Logen traten dem Waisenvereine bei und ihren vereinten Bemühungen gelang es, in verhältnißmäßig kurzer Zeit die Summe des Ankaufs zu decken.

Am 7. Juli 1867 fand die Einweihung des Gebäudes statt, bei welcher Gelegenheit ein Festzug veranstaltet wurde, an dem sich die Mitglieder von fünfundfünfzig deutschen Gesellschaften, Logen und Vereinen betheiligten. Im neuen Waisenhause blühte das Unternehmen ersichtlich immer mehr auf. Die stetige Zunahme der Kinder, sowie die schädliche Ueberfüllung der Räume mußten indessen das Directorium, nachdem erst vier Jahre seit dem Einzuge in das Waisenhaus an der Calvertstraße verflossen waren, auf Mittel und Wege weisen, den Verhältnissen eine entschieden andere Gestaltung zu geben.

Man entschied sich für den Ankauf eines Carmeliterinnenklosters an der Aisquithstraße und beschloß einen gänzlichen Neubau auf dem erworbenen Grundstücke zu unternehmen. Nachdem ein Plan für den Bau angenommen worden war, wurde sofort mit dem Abbruche des Klosters begonnen, und nicht lange währte es, so war das alte finstere Gebäude, welches schon seit geraumer Zeit eine Unzierde der Aisquithstraße gewesen, von der Erde verschwunden, und langsam wuchs der neue Prachtbau aus dem Boden.

Am Sonntag, den 22. Juni 1873, fand die Grundsteinlegung statt, und die hiermit verbundene Feier war vielleicht die erhebendste, welche jemals von Deutschen in Amerika veranstaltet wurde. Fast jeder Deutsche, von dem Interesse für die edle Sache getrieben, nahm an der Feier Theil. Der Festzug, welcher ebenso wenig fehlte wie bei der Einweihung des alten Waisenhauses im Jahre 1867, bestand aus mehr als hundert Gesellschaften und Vereinen. Die Häuser der Stadt waren mit unzähligen deutschen und amerikanischen Fahnen geschmückt und die Straßen, durch welche sich der Zug bewegte, allenthalben mit einer dichten Menschenmenge besäet. Ganz Baltimore schien auf den Beinen zu sein; selbst die frommen, strenggläubigen Amerikaner vergaßen an diesem Tage die Kirche zu besuchen. Die Tempel der Methodisten, Baptisten, Unitarier, Quäker etc. standen verlassen, und die Verkündiger des Evangeliums in diesen Bethäusern predigten vor leeren Bänken.

Schon dreimal vor diesem Feste hatte Baltimore große von Deutschen ausgehende Processionen aufzuweisen: beim Steubenfeste, bei der Ankunft des ersten Bremer Dampfers und bei dem Friedensfeste nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges. So groß die Begeisterung auch bei jenen Gelegenheiten gewesen, so schnell war sie doch wieder, nachdem der specielle Zweck erreicht und der Jubel verklungen war, verraucht. Anders war es bei der Grundsteinlegung des Waisenhauses. Während sich in früheren Jahren die Vereine, nachdem eine derartige Festlichkeit ihr Ende erreicht, wieder auf ihr eigenes Feld zurückgezogen und isolirt dastanden, wurden die einzelnen Organisationen durch die Grundsteinlegung nur noch näher verbunden, und diejenigen Körperschaften, welche dem Waisenvereine noch nicht beigetreten und nicht durch Repräsentanten im Directorium der Anstalt vertreten waren, beeilten sich, diese bisher versäumte Pflicht einzuholen.

Natürlich wurden bei der Feier der Grundsteinlegung auch Reden gehalten, und selbst der damalige Gouverneur des Staates Maryland, der Achtb. W. Pinkney Whyte, erschien an jenem Tage unter seinen Mitbürgern und hielt die englische Festrede. Seine Worte fanden den Weg zu Aller Herzen, und gewaltig war die Wirkung, welche dieser Redner, der zur Zeit Mitglied des Bundessenats ist, mit seinen Worten auf die Masse ausübte. Als deutsche Redner traten Herr Gustav Facius, der Präsident des Waisenhauses, Herr Heinrich Scheib, Geistlicher der deutschen Zionsgemeinde, und Herr Martin Kratt, der Gründer der Anstalt, auf.

Eine während der Feier unter der versammelten Menge veranstaltete Collecte ergab den hübschen Betrag von mehr als dreitausend Dollars.

Die Arbeiten an dem Baue nahmen jetzt einen rüstigen Fortgang, und seit wenigen Wochen ist das Gebäude, wenn man von einigen Arbeiten im Innern absieht, als vollendet zu betrachten. Am 22. Juni, dem Jahrestage der Grundsteinlegung, wird die Einweihung der neuen Waisenheimath stattfinden, und daß dieser Tag sich abermals zu einem Festtage für die ganze deutsche Bevölkerung, deren Schooßkind das Asyl geworden ist, gestalten wird, kann nur Der bezweifeln, der nicht den Geist des Wohlthuns und der Mildthätigkeit kennt, welcher unter den Deutschamerikanern herrscht und in deren Herzen tiefe Wurzeln gefaßt hat.

Mit dem Waisenvereine ist ein Damennähverein verbunden, der für die Bedürfnisse der Kinder sorgt und den Haushalt der Anstalt mit Dem versorgt, was gerade nothwendig ist. Dieser Nähverein, ein wackerer Compagnon des Directoriums, zählt gegenwärtig dreihundertfünfundsiebenzig Mitglieder, von denen jedes einen jährlichen Beitrag von drei Dollars zahlt. Der Verein befindet sich, obwohl er jährlich Hunderte von Dollars für Bekleidungs- und Haushaltungsgegenstände ausgiebt, dennoch finanziell in einem blühenden Zustande und überwies erst kürzlich dem Baucomité zur Bestreitung von Baukosten für das neue Waisenhaus einen Beitrag von tausendfünfhundert Dollars.

Die Kinder der Anstalt erhalten freien Unterricht in verschiedenen deutschamerikanischen Schulen, doch wird hoffentlich der Tag nicht mehr fern sein, wo das Waisenhaus seine eigene Schule aufzuweisen haben wird.

Das neue Asyl, dessen Einweihung nunmehr vor der Thür steht, umfaßt ein Front- und ein Hintergebäude nebst Waschhaus. Der Hauptbau beginnt in einer Entfernung von vierundzwanzig Fuß von der Baulinie und schließt sich mit seiner nördlichen Seite unmittelbar an die Capelle, ein kleines Gebäude, welches


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_361.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)