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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 23.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Von E. Werner.


Der Vorhang sank unter dem Beifallssturme des ganzen Hauses. Logen, Parterre und Galerien verlangten einstimmig das Wiedererscheinen der Sängerin, die in dem Finale des soeben beendigten Actes Alles zur Begeisterung fortgerissen hatte. Das ganze Parquet gerieth in Aufruhr, und man ruhte nicht, bis die Gefeierte sich endlich zeigte, um, begrüßt von dem mit neuer Macht hervorbrechenden Beifall, von Blumen, Kränzen und Huldigungen aller Art, dem Publicum zu danken.

„Das ist ja heut’ ein echt italienischer Theaterabend,“ sagte ein älterer Herr, in eine der Logen des ersten Ranges tretend. „Signora Biancona scheint die Kunst zu verstehen, das sonst so ruhig und gesetzt fließende Patricierblut unserer edlen Hansastadt mit dem südlichen Feuer ihrer Heimath zu erfüllen. Die Begeisterung für sie fängt nachgerade an, epidemisch zu werden. Wenn das noch weiter um sich greift, so erleben wir, daß die Börse ihr einen Fackelzug votirt, und der Senat der freien Reichsstadt in corpore bei ihr erscheint, um ihr die Huldigung derselben zu Füßen zu legen. An Ihrer Stelle, Herr Consul, würde ich beiden hohen Körperschaften diesen Vorschlag unterbreiten. Ich bin überzeugt, daß er eine enthusiastische Aufnahme findet.“

Der Herr, an den diese Worte gerichtet waren, und der an der Seite einer Dame, augenscheinlich seiner Gattin, im Vordergrunde der Loge saß, schien sich der soeben verspotteten allgemeinen Begeisterung gleichfalls nicht entziehen zu können. Er hatte das Klatschen mit einer Ausdauer und Energie betrieben, die einer besseren Sache würdig war, und wandte sich jetzt halb lachend, halb ärgerlich um.

„Dachte ich es doch, daß die Kritik sich wieder in Opposition zu der allgemeinen Stimme setzen würde! Freilich, Doctor, Sie schonen in Ihrem entsetzlichen Morgenblatte ja weder Börse noch Senat; wie sollte da Signora Biancona Gnade finden?“

Der Doctor lächelte ein wenig malitiös und trat an den Sessel der Dame, als ein junger Mann, der hinter demselben seinen Sitz hatte, sich artig erhob, um ihm Platz zu machen.

„Herr Almbach,“ sagte die Dame vorstellend, „Herr Doctor Welding, der Redacteur unseres Morgenblattes, dessen Feder –“

„Um Gotteswillen, gnädige Frau,“ unterbrach sie Welding, „discreditiren Sie mich nicht gleich von vornherein in den Augen dieses Herrn. Man braucht einem jungen Künstler nur als Kritiker vorgestellt zu werden, um sofort seiner vollsten Antipathie sicher zu sein.“

„Möglich!“ lachte der Consul, „aber diesmal hat Sie Ihr Scharfblick doch getäuscht. Herr Almbach wird, Gott sei Dank! nie in den Fall kommen, vor Ihrem Richterstuhle zu erscheinen. Er ist Kaufmann“

„Kaufmann?“ Ein Blick der Verwunderung streifte die Gestalt des jungen Mannes. „Dann bitte ich allerdings um Verzeihung wegen meines Irrthums. Ich hätte Sie für einen Künstler gehalten.“

„Sehen Sie, lieber Almbach, da spielen Ihnen Ihre Stirn und Augen schon wieder den schlimmen Streich!“ scherzte der Consul. „Was würden die Ihrigen daheim zu dieser Verwechselung sagen? Ich fürchte beinahe, sie nähmen das als eine Art von Beleidigung.“

„Vielleicht! Ich nehme es als keine solche,“ sagte Almbach sich leicht gegen Welding verneigend. Die Worte sollten wohl den angeschlagenen Ton des Scherzes fortsetzen, aber es lag in ihnen eine halb verborgene Bitterkeit, die dem Doctor nicht entging. Sein Auge heftete sich forschend auf die Züge des jungen Fremden, aber gerade in diesem Augenblicke wandte sich die Dame zu ihm und nahm das vorhin berührte Thema wieder auf.

„Sie werden doch zugeben, Herr Doctor, daß die Biancona heute ganz hinreißend war. Dieses junge, eben erst auftauchende Talent ist in der That ein neuer Stern an unserem Theaterhimmel –“

„Der einst zur strahlenden Sonne werden wird, wenn er hält, was er uns heute verspricht – gewiß, gnädige Frau, das leugne ich auch keineswegs, wenn diese künftige Sonne auch gegenwärtig noch einige Flecken und Unvollkommenheiten zeigt, die einem so begeisterten Publicum natürlich entgehen.“

„Nun, dann rathe ich Ihnen, diese Unvollkommenheiten nicht gar zu stark zu betonen,“ sagte der Consul, in das Parquet zeigend. „Dort unten sitzt eine Schaar von begeisterten Rittern der Signora. Nehmen Sie sich in Acht, Doctor, sonst erhalten Sie mindestens sechs Herausforderungen.“

Das malitiöse Lächeln spielte wieder um Welding’s Lippen, während er mit einem ironischen Blicke den jungen Almbach streifte, der schweigend, aber mit finster gerunzelter Stirn dem Gespräche gefolgt war.

„Und vielleicht die siebente noch dazu! Herr Almbach zum Beispiel scheint meine eben geäußerte Ansicht als eine Art von Hochverrath zu betrachten.“

„Ich bedaure, Herr Doctor, im Punkte der Kritik noch sehr weit zurück zu sein“ entgegnete der Angeredete kühl. „Ich,“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_363.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)