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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. „Schade,“ sagt Goethe in seinen Prosasprüchen, „daß man es ihr versagte! Denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare, sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.“

Mit großer Ruhe hatte Madame Roland alle Vorbereitungen zu ihrem Tode getroffen, Abschied von den Ihrigen genommen, ihre Tochter ermahnt, der Eltern würdig zu sein, die ihr große Beispiele hinterlassen, und dann ihr Testament gemacht. Sie schmückte sich zum letzten Gange in ähnlicher Weise, wie sie vor dem Tribunale erschienen war. Ein weißes Gewand, lang-herabwallende Haare – ihre Züge zeigten eine leichte Röthe, eine jugendliche Verklärung. Den wüthenden Furien, welche den Leichenkarren umtanzten mit dem Rufe „Zur Guillotine!“ rief sie zu: „Beruhigt Euch! Ihr seht ja, daß ich schon auf dem Wege dahin bin; doch Diejenigen, welche mich hinschicken, werden mir nachfolgen, und Ihr werdet ihren Tod beklatschen, wie heute den meinigen.“ Auf dem Leichenkarren saß mit ihr ein Greis, Lamarche, ein Director der Assignatenfabrik, dessen Muth dem ihrigen nicht gleich kam; sie wußte ihn auf dem Wege zum Schaffote zu erheitern, so daß sie ihm selbst ein Lächeln ablockte. Hinter dem Schaffote erhob sich die Statue der Freiheit; sie verneigte sich vor derselben mit den Worten: „O Freiheit, welche Verbrechen begeht man in deinem Namen!“ Sie bat den Scharfrichter, Lamarche vor ihr zu enthaupten, damit dem alten Manne erspart werde, ihr Blut zu sehen, und als dieser nach einigem Zögern sich dazu verstand, führte sie den Greis selbst an das Schaffot und drückte ihm die zitternde Hand mit den Worten: „Es ist bald gethan.“ Sie sah der Hinrichtung mit Fassung zu, stieg empor, ohne einen Wink abzuwarten, und hob oben ihr Kleid ein wenig in die Höhe, damit es nicht von dem entgegenströmenden Blute befleckt werde.

Der 10. November 1793 war der Tag ihrer Hinrichtung. So starb eine edle und begabte Frau, deren Charakter in seiner ganzen Größe erst ein tragisches Schicksal der Mit- und Nachwelt enthüllen sollte. Fünf Tage darauf fand man etwa vier Meilen von Rouen an der Landstraße einen todten Mann, der sich den Degen in die Brust gebohrt hatte – es war der Exminister Roland de la Platière. Im Jahre 1794 fand man im südlichen Frankreich, von den Wölfen angenagt, die Leichen zweier Männer; man erkannte Petion und Buzot, sie hatten sich durch Gift den Tod gegeben. So hatten die Genossen ihres Lebens und Herzens nicht lange die seltene Frau überlebt.




Die Haselnuß.


Eine freundliche Geschichte aus dem Walde.


(Schluß.)


Ein Herbstnachmittag lag blau und sonnig über dem Walde, still und feierlich, als wäre Sonntag und Alles wäre versunken in ein inbrünstiges Gebet. Die Birken standen wie gelbe Standarten im grünen Haselgesträuch, und die Nüsse des letzteren fielen überreif nieder in’s Moos.

Felix und Ellen konnten nicht mehr mit einander gehen, um Nüsse und Küsse zu pflücken, denn der alte Waldraff hielt sie streng geschieden. Er hatte keine fernere Annäherung bemerkt und glaubte, Ellen ergebe sich in ihr Schicksal und der langbärtige Unterlehrer sei ungefährlich geworden. Noch war der Schuldienst in Ebensee unbesetzt, denn es hatten sich Competenzstreitigkeiten erhoben, die der alte Baron mit merkwürdiger Hartnäckigkeit zu einem für ihn günstigen Ende führte. Er verglich sich nach Beendigung der Streitsache mit großer Selbstgefälligkeit mit Kaiser Nero, der Alles durchgeführt habe, sogar den Brand der Stadt Rom. Es mußte sich jetzt bald für Felix entscheiden, und wenn ihm nicht Kaiser Nero zu Hülfe kam, war guter Rath theuer.

Er war heute wieder zur alten Waldkirche gegangen, aber nicht um Nüsse, sondern um Küsse. Das Rosenorakel hatte ihn auf heute berufen, und er erwartete Wichtiges vom heutigen Tage. Im Forsthause war nämlich, wie er wohl wußte, Besuch aus der Stadt, der vom Vater protegirte Nebenbuhler, den Felix in’s Pfefferland wünschte. Er war begierig, was Ellen sagen und thun werde.

Die alte Kirche war wundersam vergoldet von der Herbstsonne, und ein breiter Strahl ruhte auf den Altarstufen, auf denen Felix saß oder eigentlich lag. Er hatte sich nämlich weit vornübergebeugt und schnitzelte eifrig an einem kleinen Gegenstande herum. Es war die Haselnuß, die er von Ellen’s Lippen gepflückt und in die er sorgfältig etwas gravirte.

Bald traten die Buchstaben deutlich hervor, und er flüsterte leise den Namen vor sich hin, den er hineingeschnitten in die braune Nuß: „Ellen.“

„Ich bin ein ganzes Kind,“ murmelte er, „obwohl der Baron meint, ich sei nur ein halbes. Ich werde die Nuß an meiner Uhrkette tragen, dann ist Ellen gut angebunden.“ Er mußte lächeln über seine Phantasien. „Jetzt noch ein Herz darüber als Symbol meiner Liebe,“ fügte er hinzu und ging sofort an die Arbeit.

Auf einmal wich ihm die Nuß unter einem zu starken Drucke unter den Fingern, machte einen Satz und kollerte dann die Stufen hinunter, so daß er sie einen Augenblick aus den Augen verlor. Er begann sofort Jagd auf sie zu machen und entdeckte sie auch bald in einer Steinritze, wo sie sich eingezwängt hatte und unter dem Drucke seiner Finger sich noch weiter in die Spalte hinunterschob. Mit aller Anstrengung vermochte er nicht sie heraufzuzwängen.

„Was fangen wir jetzt an?“ fragte er sich und suchte nach einem Gegenstande, den er als Hebestange hätte benutzen können. Sein Auge fiel sofort auf den eisernen Fuß des ehemaligen Crucifixes, der noch in dem metallenen Sockel stand. Rasch drehte er ihn aus dem zerbröckelnden Steine und hatte den kräftigsten Hebel gewonnen.

„Was thut man doch um eine Nuß!“ schalt er sich selber lächelnd, als er das Eisenstück in die Steinfuge einsetzte. Ein Druck – die Platte wich, und eine Wolke von Staub quoll aus der Oeffnung herauf, in welche die Haselnuß mit einem klingenden „Tipp“ hinuntergefallen war. Als die Wolke verschwommen, stand Felix sprachlos vor der Oeffnung und rieb sich wiederholt die Augen, denn ihm war, als träume er. Die entsprungene Nuß lag wie eine braune Perle in einer mit Silberstücken gefüllten Urne obenauf, und der Name „Ellen“ blickte so harmlos aus dem Schatze herauf, als gehöre er zu demselben.

Der Schatzfinder hatte sich aber bald wieder gefaßt, hob die Last schnell zu Tage und stellte sie in den breiten Sonnenstrahl, der auf dem Altare schlief. Felix setzte sich nieder, denn seine Kniee zitterten. Er sah von Zeit zu Zeit schüchtern zur Seite, wie um sich zu überzeugen, daß es kein Spuk sei. Eine ganze Reihe von Combinationen drängte sich in seinem Kopfe, auf den er beide Hände preßte, so daß er den Eintritt Ellen’s gar nicht bemerkte.

Ellen wußte offenbar auch nicht, wie ihr geschah, denn sie starrte lange mit verwunderten Blicken auf den Silberschatz, der wie eine Krone leuchtete und eine Haselnuß als Gipfelperle trug.

„Ellen,“ fuhr Felix auf, „Ellen, ich bin reich. Dort“ – er wies auf die dunkle Oeffnung – „dort habe ich den Schatz gefunden, gefunden durch die Haselnuß, die ich von Deinen Lippen naschte und in die ich Deinen süßen Namen eingrub. Ellen, wir werden glücklich sein.“ Er zitterte vor Aufregung.

„Gott sei’s gedankt!“ flüsterte das erregte Mädchen. „Es ist hohe Zeit. Der mir bestimmte Bräutigam aus der Stadt ist angekommen, und der Vater hat mir schon bedeutet, daß er ein Ende machen werde mit mir. O, es wäre ein Ende mit Schrecken! Aber Alles wird nun gut werden. O Felix, Du hast einen bedeutungsvollen Namen, Felix – der Glückliche.“

Und er trank glücklich, der Glückliche, an den Lippen, die für ihn blühten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_371.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)