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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Leipzigs Industrien.


Nr. 2. Ein überwundenes Vorurtheil in einer Bagatellsache.


Wenn die Natur ideal nachzuahmen der eigentliche Beruf der Kunst ist, so leben wir jetzt in der That in einem künstlerischen Zeitalter. Wer kennt nicht die künstlichen Blumen und Blätter, die den Hut oder das bloße Haupt, die künstlichen Diamanten und Perlen, welche Brust, Hals und Arm so mancher Schönen schmücken, ohne daß wir im einzelnen Falle nachzuweisen vermöchten, ob Natur oder Kunst hier thätig gewesen? Man ahmt heute die Natur so treu nach, daß in manchen Dingen Niemand sie vermißt. So ist’s mit den in unserem ersten Aufsatze erwähnten „Aetherischen Oelen und Essenzen“, so ist’s mit der Papierwäsche, der wir heute einen kurze Artikel in der Ueberzeugung widmen, daß dieser von Vielen gewiß als Bagatelle betrachtete Gegenstand einer näheren Beachtung sehr wohl würdig ist.

Unter Papierwäsche versteht man Halskragen und Manschetten für Frauen, Männer und Kinder sowie Vorhemdchen aus Papier. Früher waren diese Gegenstände mit dem Hemde vereinigt und von ihm unzertrennbar, da man aber bald fand, daß diese Theile am leichtesten schmutzen, und es in Folge dessen oft nöthig war, täglich mehrmals die Leibwäsche zu wechseln, so fabricirte man sehr bald Kragen, Manschetten und Vorhemdchen aus Leinwand separat. Man ermöglichte auf diese Weise, ohne sich entkleiden zu müssen, die dem Auge Anderer sichtbaren Theile der Wäsche oft und ohne Zeitverlust zu wechseln. Vor dreißig Jahren kannte man nur rein leinene Wäsche, dieselbe hat jedoch immer den Nachtheil gehabt, sehr leicht zu erkälten, da Leinwand den Schweiß des Menschen nicht leicht absorbirt. Später kam von England das Gewebe „Shirting“. Es wurde aus Baumwollfaden fabricirt und hatte den Vortheil, billiger als Leinwand zu sein und sich angenehmer und für den Körper wohlthuender zu tragen. Trotzdem führte es sich schwer ein. Auch Kragen, Manschetten und Vorhemdchen wurden nun aus Shirting gefertigt; sie verloren aber beim Waschen sehr leicht ihre ursprüngliche Form, weil der Faden der Baumwolle, sobald er feucht wird, sich in jede beliebige Form ziehen läßt.

Neue Kragen, Manschetten und Vorhemdchen aus Leinwand oder Shirting haben immer eine schöne, ansprechende Façon, schönen Glanz oder Appret, und sitzen meistentheils tadellos und bequem. Sobald sie aber in die Wäsche kommen, um gereinigt zu werden, verlieren sie diese guten Eigenschaften leider zu schnell, und nur eine ganz tüchtige Plätterin ist im Stande, den gewaschenen Kragen und Manschetten annähernd wieder die alte Façon zu geben. Dabei werden diese Bekleidungsgegenstände aber hart und steif. Wir behaupten wohl nicht zu viel, wenn wir sagen, daß ein Halskragen, nachdem er acht- bis zehnmal gewaschen und geplättet worden ist, seine ursprüngliche Form vollständig verloren hat, und entweder seinem Besitzer zu eng oder zu weit geworden ist, daß er am Halse oft reibt oder kratzt, daß er den Hals unter Umständen geradezu zuschnürt, oder doch wenigstens beim Tragen ein sehr unangenehmes, unbehagliches Gefühl verursacht. Uns ist es selbst vorgekommen, daß wir von unseren Leinenkragen vier bis fünf Stück nacheinander haben versuchen müssen, ehe wir einen gut passenden gefunden haben.

Diese Uebelstände brachten denn intelligente Leute auf den Gedanken, diese täglich nothwendigen Bekleidungsgegenstände aus einer Substanz herzustellen, welche die oben gerügten Nachtheile beseitigen. Man wollte gleichzeitig die vielen Mühen und Ausgaben für das Waschen vermeiden oder ganz beseitigen. Man kam auf das Fabriciren von Papierkragen, Manschetten und Chemisettes.

Es ist einleuchtend, daß man zu dieser Fabrikation kein dünnes Papier, wie etwa Schreibpapier, nahm, sondern daß man dazu einen Carton wählte, der ungefähr die Stärke der zu verdrängenden Leinenkragen hatte. Man mußte auch ein ganz kerniges, solides Papier dazu nehmen, damit es nicht leicht zerreiße. Die ersten Versuche waren der Art, daß man nur langsam vorwärts kam. Man schnitt die Formen der Kragen mit dem Messer oder der Scheere und konnte nur Stehkragen erzeugen, da man einen glatten Bruch dem starken Papiere nicht beibringen konnte. Jedoch schon dieser erste Versuch fand Anklang, freilich nur in der Weise, daß jeder Consument sein eigener Fabrikant war; namentlich wurden in den vierziger Jahren auf unseren Hochschulen die sogenannten „Vatermörder“, lange spitze Stehkragen, gern und vielleicht aus Scherz von den Herren Studenten selbst fabricirt und getragen.

Bald aber suchte man mit Maschinen, die eigens dazu construirt wurden, Papierwäsche auf mechanischem Wege zu fabriciren. Man machte Versuche, den glatten Bruch des Papieres zu erlangen, um Umlegekragen herzustellen. Es gelang. Wenn auch die Formen der erzeugten Fabrikate noch nicht so geschmackvoll ausgeführt werden konnten, da man sich im Anfange an das Einfache halten mußte, so war man wirklich sehr bald im Stande, Papierwäsche auf mechanischem Wege herzustellen.

Die ersten Fabrikate waren verhältnißmäßig theuer und wurden wohl mehr der Curiosität halber gekauft. Niemand, der diese Kragen trug, sagte dem Andern davon, denn er schämte sich zu bekennen, daß er Papier am Halse oder Arme trüge. Man fand aber sehr bald, daß diese Papierwäsche länger weiß und reinlich blieb, als die leinene oder shirtingene. Das war schon ein Fortschritt. Man mußte nun daran denken, dieselbe auch billig herzustellen, und bald kam man auch dahin, den Wäscherinnen in den großen Städten Concurrenz zu machen, denn die Papierkragen, Manschetten und Chemisetten wurden fast für dasselbe Geld neu verkauft, das man als Waschlohn der leinenen Kragen zahlen mußte. Damit war der praktische Werth der Papierwäsche bewiesen.

Noch war das aber nicht Alles, um diesem neuen Industriezweige den Weg zu bahnen. Man hegte ja das große Vorurtheil, daß es nicht schicklich sei, Papierwäsche zu tragen. Es war ja viel richtiger, sich in seinem leinenen Kragen unbequem und unbehaglich zu fühlen, als die bequemeren und gut passenden Papierkragen zu tragen; man hätte ja glauben können, daß man nicht in der Lage sei, sich Leinwandkragen zu kaufen. Wie doch der Mensch ein Sclave der Gewohnheit und des Vorurtheils ist! Das Praktische wird nicht adoptirt, weil es nicht fashionable ist. Jedoch die Papierwäsche ist auch fashionable geworden, und heute braucht sich Niemand mehr zu schämen, offen zu bekennen, daß er Papierwäsche trage, weil dieselbe factisch die Leinenwäsche in jeder Beziehung übertroffen hat.

Namentlich unsere Leipziger Fabrik, welche wir später erwähnen werden, hat die Fabrikation von Papierwäsche dermaßen vervollkommnet, daß die vollständige Adoptirung derselben nur noch eine Frage der Zeit ist; nämlich sie modellirt ihre Papierwäsche, das heißt sie formt Kragen, Manschetten und Vorhemdchen genau nach dem Körpertheile, welcher mit denselben bekleidet werden soll. Keiner Leinenwäschefabrik ist es bis jetzt gelungen, diese Modellirung nachzuahmen, obgleich es vielfach versucht worden ist, und erreichte sie wirklich dieses Ziel, die Waschfrau würde die erlangte Form bei der ersten Wäsche wieder zerstören. Auch keine andere Papierwäschefabrik konnte bis jetzt die Modellirung nachahmen, und sicher ist dies die außerordentlichste Leistung, die in dieser Industrie gemacht worden ist. Denken Sie sich einen Umlegekragen; derselbe ist naturgemäß an dem Theile, welcher oben am Halse anliegt, am engsten. Die Modellirung erweitert nun diesen Theil um ein Beträchtliches, und der Hals ist nicht mehr eingeengt, bewegt sich frei und ungenirt im Kragen, und ein angenehmes freies Gefühl ist die Folge davon. Durch dieses Modelliren ist das mit Recht früher streng getadelte Reiben der Papierwäsche am Halse und Arme sofort beseitigt worden.

Jeder Papierkragen, jede Papiermanschette, jedes Vorhemdchen läßt sich mindestens drei Tage tragen, ohne unsauber zu werden, ein Vortheil, den man der Leinenwäsche nicht nachsagen kann. Bedenkt man, daß man diese Artikel selbst im Dutzend zum ungefähren Preis des Waschlohns kauft (die meisten Artikel unter diesem Preis), so liegt es auf der Hand, daß man bei Adoptirung der Papierwäsche mindestens jährlich die Ausgabe für neue Leinenkragen und Manschetten erspart. Das dürfte aber doch immerhin fünf Thaler pro Person sein, eine Summe, welche für Manchen schon eine Rolle spielt. Wenn man aber noch in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_377.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)