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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


No. 24.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Das ist zu arg. Diese Manie fängt wirklich an, alle Grenzen zu übersteigen. Ich werde dem Reinhold das musikalische Handwerk noch ganz und gar legen müssen, wenn er fortfährt, es in so unsinniger Weise zu betreiben.“

Mit diesen Worten eröffnete der Kaufmann Almbach eine Familiendebatte, die im Wohnzimmer in Gegenwart seiner Frau und Tochter stattfand und der zum Glück der eigentliche Gegenstand derselben nicht beiwohnte. Herr Almbach, ein Mann von fünfzig Jahren etwa, dessen ruhiges, gemessenes und etwas pedantisches Wesen sonst dem ganzen Comptoirpersonale als Muster vorleuchtete, schien durch die oben erwähnte „Manie“ völlig aus der Fassung gebracht zu sein, denn er fuhr in vollster Aufregung fort:

„Da kommt der Buchhalter heute Morgen gegen vier Uhr von dem Jubiläum zurück, das ich schon gleich nach Mitternacht verlassen hatte. Von der Brücke aus sieht er das Gartenhaus erleuchtet und hört den Reinhold über die Tasten hinrasen, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Natürlich konnte er mich zum Feste nicht begleiten; er behauptete krank zu sein, aber in dem eiskalten Gartenzimmer bis an den hellen lichten Morgen seinen Flügel zu maltraitiren, daran hinderte ihn der ‚unerträgliche Kopfschmerz‘ nicht. Ich werde es wohl nächstens wieder von meinen Collegen zu hören bekommen, daß mein Herr Schwiegersohn wie in der Unbrauchbarkeit, so auch in der Rücksichtslosigkeit das Möglichste leistet. Es ist kaum zu glauben. Der jüngste Commis weiß besser Bescheid in den Büchern und hat mehr Interesse für das Geschäft, als der Compagnon und dereinstige Chef des Hauses Almbach und Compagnie. Mein Leben lang habe ich geschafft und gearbeitet, um meine Firma zu einer festgegründeten, geachteten zu machen – und nun die Aussicht, sie einst in solchen Händen lassen zu müssen!“

„Ich habe es Dir stets gesagt, Du solltest ihm den Umgang mit dem Musikdirector Wilkens verbieten,“ fiel Frau Almbach ein. „Der allein ist an Allem schuld. Mit diesem alten menschenfeindlichen Musiknarren konnte Niemand auskommen; Jedermann floh und haßte ihn, aber für Reinhold war das nur ein Grund mehr, die intimste Freundschaft mit ihm zu schließen. Tag für Tag war er drüben, und dort allein ist der Grund zu all dem musikalischen Unsinn gelegt worden, den der Herr Lehrer bei seinem Tode auf ihn vererbt zu haben scheint. Es ist kaum mehr zu ertragen, seit wir das Vermächtniß des Alten, den Flügel, im Hause haben. Ella, was sagst Du denn eigentlich zu diesem Benehmen Deines Mannes?“

Die junge Frau, an welche die letzten Worte gerichtet waren, hatte bisher noch nicht eine Silbe gesprochen. Sie saß am Fenster, den Kopf tief auf ihre Näherei herabgebeugt, und blickte erst bei dieser direct an sie gerichteten Frage empor.

„Ich, liebe Mutter?“

„Ja, Du mein Kind, denn Dich geht die Sache doch wohl zumeist an. Oder fühlst Du es wirklich gar nicht, in welcher unverantwortlichen Weise Reinhold Dich und das Kind vernachlässigt?“

„Er liebt die Musik so sehr,“ sagte Ella leise.

„Willst Du ihn etwa noch entschuldigen?“ eiferte die Mutter. „Das ist ja eben das Unglück, daß er sie mehr liebt als Frau und Kind, daß er nach Euch Beiden nichts fragt, wenn er nur an seinem Flügel sitzen und phantasiren kann. Hast Du denn gar keinen Begriff davon, was eine Frau von ihrem Manne fordern darf und fordern muß, und daß sie vor Allem die Pflicht hat, ihn zur Vernunft zu bringen? Aber freilich, von Dir ist niemals auch nur das Geringste zu erwarten.“

Die junge Frau sah nun allerdings nicht aus, als ob von ihr viel zu erwarten wäre. Sie hatte überhaupt wenig Anziehendes in ihrer Erscheinung, und das Einzige, was an dieser vielleicht hübsch zu nennen war, die zarte, noch mädchenhaft schlanke Gestalt, verbarg sich völlig unter einem höchst unkleidsamen Hausanzuge, der in seiner grenzenlosen Einfachheit eher auf eine dienende Person, als auf die Tochter des Hauses schließen ließ und ganz dazu gemacht war, jeden etwaigen Vorzug möglichst zu verstecken. Von dem blonden Haare war nur ein einziger, schmaler Streifen sichtbar, der glatt gescheitelt über der Stirn lag; das Uebrige verschwand gänzlich unter einer Haube, die wohl besser für die Jahre ihrer Mutter gepaßt hätte und einen eigenthümlichen Gegensatz zu dem Gesichte der kaum zwanzigjährigen Frau bildete. Dieses blasse Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen war nicht geeignet, irgend ein Interesse zu erwecken; es hatte gar keinen Ausdruck; es lag etwas Starres, Leeres darin, etwas, das beinahe an Stumpfheit streifte, und in diesem Augenblicke, wo sie die Näherei sinken ließ und ihre Mutter anblickte, zeigte es eine so hülflose Aengstlichkeit und Rathlosigkeit, daß Almbach sich veranlaßt fand, seiner Tochter zu Hülfe zu kommen.

„Laß Ella in Ruhe!“ sagte er mit jenem halb ärgerlichen, halb mitleidigen Tone, mit dem man die Einmischung eines Kindes zurückweist. „Du weißt ja, daß mit ihr nichts anzufangen ist, und was sollte sie auch wohl hier ausrichten!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_379.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)