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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Das faulste Thier.
Von Brehm.


In seinem „Gaudeamus“, diesem unerschöpflichen Schatze von Geist, Humor und Laune, giebt Josef Victor Scheffel, der noch immer viel zu wenig gekannte, dafür aber von verhältnißmäßig Wenigen auch um so mehr geschätzte, gelehrte und gemüthvolle Dichter des „Ekkehard“, eine Schilderung des Megatherium und damit den Kern der ungünstigen Nachreden wieder, welche bis zum heutigen Tage die Naturgeschichte der Faulthiere trüben. Es ist noch nicht lange her, daß jene Nachreden und gewisse Uebertreibungen, welcher man sich bei Schilderungen besagter Thiere zu schulden kommen ließ, selbst von Naturforschern geglaubt wurden, und somit erscheint es, wenn auch nicht verzeihlich, so doch erklärlich, daß geistlose Schriftsteller noch gegenwärtig das im Ernste wiederkäuen, was der geistvolle Dichter zu anmuthigem Scherze gestaltete.

„Das hurtige Hündchen,“ sagt der Spanier Gonsalvo Fernando Oviedo, dem wir die ersten Nachrichten über die Faulthiere verdanken, „ist das trägste Thier der Erde. So schwerfällig und langsam bewegt es sich, daß es einen ganzen Tag braucht, um nur fünfzig Schritte zurückzulegen. Die ersten Christen, welche es gesehen, erinnerten sich, daß man in Spanien die Neger ‚weiße Hänse‘ nennt, und gaben ihm daher spottweise den Namen ‚hurtiges Hündchen‘. Es ist eines der sonderbarsten aller Thiere. Den Hals bewegt es, als ob es staune. Sein einziger Wunsch und sein Vergnügen ist, hoch an Bäumen zu hängen oder sonst an etwas, wo es klettern kann, und daher sieht man es oft an Bäumen, an denen es langsam hinaufklettert, immer mit den Klauen sich festhaltend. Seine Stimme ist von der aller anderen Thiere sehr verschieden; es singt auch immer nur bei Nacht. Hat es einmal gesungen, so wartet es eine Zeit lang und wiederholt dann dasselbe; aber nur bei Nacht läßt es sich vernehmen, und deshalb sowie seiner kleinen Augen wegen halte ich es für ein Nachtthier. Findet es einen Baum, so klettert es sogleich auf die höchsten Aeste des Wipfels und bleibt daselbst zehn, zwölf, ja zwanzig Tage, ohne daß man weiß, was es frißt. Bisweilen fangen es die Christen und tragen es nach Hause; dann läuft es mit seiner natürlichen Langsamkeit und läßt sich weder durch Drohungen noch Stöße zu größerer Schnelligkeit bewegen, als es ohne äußere Anreizung an den Tag zu legen pflegt. Ich habe es zu Hause gehabt, und nach meiner Erfahrung muß es von der Luft leben; dieser Meinung sind auch noch viele Andere, denn Niemand hat es irgend etwas fressen sehen. Meist wendet es den Kopf und das Maul nach der Gegend, woher der Wind weht, woraus folgt, daß ihm die Luft sehr angenehm sein muß. Es beißt nicht und kann es auch nicht, wegen seines sehr kleinen Maules; es ist auch nicht giftig, übrigens aber das dümmste und unnützeste Geschöpf, welches ich bis zur Stunde gesehen habe.“

Ich mußte diese erste Beschreibung des Aï oder dreizehigen Faulthieres – denn nur dieses oder einer seiner nächsten Verwandten kann gemeint sein – hier anführen, weil sie von einer Reihe späterer Berichterstatter entweder einfach wiederholt oder mit Zusätzen bereichert wird, welche noch weit weniger Beobachtungsgabe und Verständniß bekunden, als beides Oviedo besaß.

Unsere treffliche, von Mützel dem Leben abgelauschte, treu wiedergegeben Abbildung des Ai (Bradypus tridactylus), wohl die beste und richtigste Zeichnung, welche bis jetzt verallgemeinert wurde, überhebt mich einer eingehenden Beschreibung der Aeußerlichkeit dieser, von dem Unau oder „zweizehigen Faulthiere“ nicht unerheblich abweichenden Art. Doch glaube ich auf die eigenthümliche Richtung, den „Strich“ der sehr richtig mit winterdürrem, das heißt, abgestorbenem Heu verglichenen Haare aufmerksam machen zu müssen. Während bekanntlich bei den Säugethieren insgemein der Strich von der oberen nach der unteren Seite, vom Rücken nach dem Bauche sich richtet, ist bei den Faulthieren, entsprechend ihrer hängenden Lebensweise, das gerade Gegentheil der Fall; die Haare scheiteln sich auf der Brust und fallen nach dem Rücken zu, aber ebenfalls hinab, nicht hinauf. Der Aï mit seinen nächsten Verwandten macht insofern eine Ausnahme von der Regel, als sein reiches Haupthaar von oben nach unten hängt; dies aber erklärt sich aus seiner geradezu beispiellosen Kopfhaltung, welche ermöglicht wird durch eine ungewöhnliche Anzahl von Halswirbeln. Gerade hierdurch, innerlich, das heißt im Gerippe, als ungleich mehr als äußerlich, weichen die Faulthiere von allen übrigen Säugethieren ab. Der Mensch wie der Walfisch, die Fledermaus wie das Beutelthier, der Maulwurf wie die Girafe, der Löwe wie der Elephant haben übereinstimmend sieben Halswirbel, und wenn einmal weniger vorzukommen scheinen, wie bei einzelnen Delfine, ist eine Verschmelzung, nicht aber ein Fehlen als Ursache anzunehmen. Bei den Faulthieren scheint die Regellosigkeit zur Regel geworden zu sein. Der Unau, das sogenannte zweizehige Faulthier (Choelopus didactylus), hat allerdings ebenfalls sieben Halswirbel, eine ihm verwandte, gegenwärtig im Kölner Thiergarten lebende Art (Choelopus Hoffmanni) aber besitzt deren nur sechs, während bei dem Aï deren neun, bei dem diesen verwandten Kapuzenfaulthier (Bradypus cucullatus) deren zehn oder, da die Artbestimmung der zergliederten Stücke nicht zweifellos ist, bei jenen zehn und bei diesen neun gefunden werden. Man hat deuteln und die überzähligen Halswirbel als Brustwirbel erklären wollen, um die außerordentliche Abweichung in Einklang mit der Regel zu bringen; gedachte Deutelei erweist sich jedoch demjenigen, welcher ein lebendes Faulthier der Sippe Bradypus beobachtet, als gänzlich unfruchtbar. Denn letzteres macht von neun oder zehn Halswirbeln einen dieser Anzahl durchaus entsprechenden umfassenden und den Beschauer anfänglich geradezu verblüffenden Gebrauch; es ist, wie unsere Abbildung deutlich erkennen läßt, im Stande, seinen Kopf soweit zu drehen, daß das Gesicht geradezu die entgegengesetzte Stellung wie bei anderen Thieren einnehmen kann und meist einzunehmen pflegt.

Die Faulthiere sind auf Süd- und Mittelamerika beschränkt. Sie bewohnen hier die ausgedehnten, wenig bevölkerten Waldungen der Tiefebenen und Stromthäler, welche, durch Feuchtigkeit und die aufregenden Strahlen der Sonne zum üppigsten Stande gebracht, in einer uns Nordländer zur Bewunderung hinreißenden Weise ihre drei- und mehrfach übereinander geschichteten und gedrängten, mannigfaltig verschiedenen Laubmassen entwickeln. An diese Waldungen sind sie gebunden; sie stehen und fallen mit ihnen. Wo die Axt zur Geltung kommt, wo im frisch gerodeten Walde die Kaffeepflanzung entsteht, das Haus des Ansiedlers aufgebaut wird, verschwinden sie, wie sie in vielen Gegenden bereits verschwunden sind. Doch giebt es immerhin noch ausgedehnte, von dem Alles vernichtenden Weißen kaum berührte Strecken, auf denen sie nicht selten auftreten. Häufig im eigentlichen Sinne des Wortes bemerkt man sie nirgends; denn sie vermehren sich schwach und scheinen durchaus nicht gesellig zu sein. Fast wehrlos, weder zu erfolgreicher Vertheidigung noch zu rettender Flucht befähigt, fallen sie, wenn sie in dem Laubgewoge einmal entdeckt wurden, dem ewig hungrigen Indianer wie dem mordsüchtigen Weißen leicht zur Beute, und auch sonst haben sie von Feinden zu leiden. Vor größeren Raubsäugethieren, die kletternden Katzen vielleicht ausgenommen, sichert sie ihr Leben in der Höhe; das scharfe Auge der Raubvögel aber vermag ihr rindenfarbiges Haarkleid doch von der Umgebung zu unterscheiden, und so fest sie sich auch an den Zweig, welcher sie trägt, anzuklammern oder so kräftig sie die langen Sichelkrallen, ihre einzige, nicht ungefährliche Vertheidigungswaffe, zu gebrauchen versuchen, die erdolchende Klaue des größeren Raubvogels ist schärfer als die ihrige, die Kraft des Adlers ihrer Ohnmacht bei weitem überlegen: die Harpyie, der gewaltigste und raubtüchtigste Adler der Erde, soll sie stückweise von den Aesten reißen.

Es läßt sich nicht verkennen, daß die Faulthiere insgesammt zu den am wenigsten entwickelten Säugethieren zählen; so tief, wie man anzunehmen gewohnt ist, stehen sie jedoch nicht. Die meisten Beobachter, welche sie während ihres Freilebens kennen lernten, haben sich, selbst wenn sie durch Vorurtheile nicht befangen waren, in schwer begreiflicher Weise täuschen lassen; sie haben nicht erkannt, daß Oviedo’s Vermuthung die einfache Wahrheit ist, daß nämlich die Faulthiere nur bei Nacht, nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_384.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)