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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Das Haus der Berliner Frauen.


In der Königgrätzer Straße befindet sich eines der interessantesten Häuser von Berlin, das in seiner Weise gewiß einzig in ganz Deutschland und vielleicht auch in der übrigen Welt dastehen dürfte, obgleich es äußerlich wenig oder gar nicht in die Augen fällt und sich höchstens durch die über dem Thorwege angebrachte Büste des durch seine humanen Bestrebungen berühmten Präsidenten Lette bemerkbar macht. Erst auf Befragen erfahren wir, daß dieses schlichte, bescheidene Haus eine große Bedeutung für die Frauenwelt hat, da es eine Reihe von wichtigen Instituten in sich schließt, die der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts dienen. Das Haus selbst heißt das Lette-Haus und ist erst seit Kurzem Eigenthum des Berliner Lette-Vereins.

An einem milden Herbsttage des Jahres 1864 besuchte der Schreiber dieser Zeilen mit mehreren Bekannten den berühmten Vater der deutschen Genossenschaften, unsern Schulze-Delitzsch, in seiner Villa zu Potsdam. Nach Tische machten wir einen kleinen Spaziergang durch den schönen Garten unseres Wirthes, wobei ich mit dem ebenfalls anwesenden Präsidenten Lette in ein interessantes Gespräch über die Lage der unversorgten Frauen gerieth. Die Veranlassung gab ein in dem von mir früher redigirten „Volksgarten“ erschienener Aufsatz „Ueber das Loos der unverheiratheten Mädchen“ von Ellen Lucia, worin die unbekannte Verfasserin mit vielem Geiste die Mängel unserer weiblichen Erziehung, die daraus entspringende Noth der unversorgten Töchter schilderte und die Mittel zur Abhülfe vorschlug, ohne jedoch mit den gewöhnlichen Phrasen die sogenannte Frauenemancipation zu fordern.

Mit dem ihm eigenen jugendlichen Eifer faßte der ausgezeichnete, für alles Gute und Edle begeisterte greise Lette den von mir nur leicht hingeworfenen Gedanken auf, einen Verein zur Beseitigung dieser in die Augen springenden Uebelstände zu bilden. Da er selbst zu sehr durch seine vielseitigen Geschäfte in Anspruch genommen wurde, ersuchte er mich, ihm einen kurzen Entwurf zu geben und ihm die nöthigen Materialien zu verschaffen, wozu ich gern bereit war. Nach meinen flüchtigen Angaben verfaßte er eine ausführliche, ebenso gediegene wie geistvolle Denkschrift, die er dem Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen überreichte.

Schon am 13. December 1865 fand auf Grund dieser Denkschrift eine vorbereitende Versammlung statt, an der sich eine große Anzahl angesehener Männer und Frauen betheiligten. Nach mehrfach eingehender Besprechung wurde am 26. Februar 1866 „Der Verein für Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ gebildet und zum Vorsitzenden der unermüdliche, hochverehrte Lette gewählt. Seinem bewunderungswürdigen organisatorischen Talente, seiner angesehenen Stellung und persönlichen Liebenswürdigkeit, seinem milden, humanen Wesen und seiner versöhnenden Natur gelang es auch, alle Schwierigkeiten und Vorurtheile zu besiegen und dem Vereine zahlreiche Gönner und Freunde zu erwerben, an deren Spitze bald die von dem gleichen Geiste beseelte Kronprinzessin Victoria als Protectorin trat. Schon im ersten und schwersten Jahre belief sich die Zahl der Mitglieder auf fünfhundert Personen, die der Beiträge auf tausend bis elfhundert Thaler.

Leider erlitt der Verein durch den am 3. December 1868 erfolgten Tod des Stifters einen schweren, fast unersetzlichen Verlust. Noch auf dem Sterbebette dachte der edle Greis an seine Schöpfung, indem er ihr ein Capital zur Gründung einer Vorschußcasse vermachte. Seine Stelle übernahm der für alle humanen Ideen thätige Professor von Holtzendorff, einer jener seltenen Gelehrten, die durch ihre Betheiligung an dem öffentlichen Leben das Ideal mit der Wirklichkeit zu vermitteln und zu versöhnen suchen. Nach mehrjähriger angestrengter Thätigkeit sah sich jedoch Professor Holtzendorff durch seine überhäuften Berufsgeschäfte genöthigt, im April 1872 den Vorsitz niederzulegen, welcher nun der Frau Schepeler-Lette, der würdigen und auch geistesverwandten Tochter ihres berühmten Vaters, übertragen wurde.

Unter ihrer Leitung entwickelte sich der Verein immer kräftiger und segensreicher, nachdem er schon unter ihren Vorgängern mit verhältnißmäßig geringen Mitteln Bedeutendes geleistet hatte. Durch das Arbeitsnachweisungsbureau erhielten bereits zahlreiche Frauen unentgeltlich eine lohnende Beschäftigung oder ein sicheres Unterkommen. Ferner wurde eine Handelsschule eingerichtet, eine Frauenindustrieausstellung veranstaltet, ein Verband sämmtlicher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine in Deutschland gegründet und zum Organ desselben der „Frauen-Anwalt“ bestellt.

Aber diesen vereinzelten, höchst anerkennenswerthen Leistungen fehlte der Mittelpunkt eines eigenen Hauses, worin alle die zerstreuten Institute ein dauerndes Unterkommen finden sollten. Nur ein solcher Grundbesitz konnte die feste Basis, den sicheren Boden abgeben, auf dem allein der Verein gedeihen konnte. Es war daher ein ebenso glücklicher als kühner Gedanke, ohne zureichendes Vermögen einen solchen nothwendigen Besitz zu erwerben. Männliche Kraft und weibliche Ausdauer ließen das schwere Werk gelingen. Zu diesem Zwecke wurde zunächst eine Sammlung bei den Gönnern und Freunden des Vereins veranstaltet, an der sich vor Allem die hohe Protectorin mit einer bedeutenden Summe betheiligte.

Mit der gewiß höchst bescheidenen Summe von achttausend wurde der Ankauf des Hauses für den Preis von fünfundneunzigtausend Thalern gewagt, nachdem sich noch in der letzten Stunde ein verborgener Wohlthäter bereit erklärt hatte, fünfundzwanzigtausend Thaler unter den liberalsten Bedingungen vorzustrecken. Da aber mit dem Ankauf auch ein nicht zu umgehender Umbau vorgenommen werden mußte, so reichte das vorhandene Geld nicht hin. Jedoch der gute Genius und der Schutzgeist des Vereins sorgte für neue Mittel; unter dem Schutze der Frau Kronprinzessin wurde in dem sogenannten Prinzessinnen-Palais ein „Bazar“ zum Besten des Lette-Hauses eröffnet. Wie durch Zauber verwandelten sich die Räume des Fürstenschlosses in eine prächtige Markthalle, worin die Protectorin mit den reizendsten Verkäuferinnen schaltete und die Elite der Gesellschaft herbeizog.

Die ersten Künstler Deutschlands, Andreas Achenbach, Begas, Passini, Paul Meyerheim, Knaus, Richter, A. von Werner, Knille, Harrach, Kalkreuth, Eschke etc. hatten ihre werthvollen Gaben auf den Altar unserer lieben Frau niedergelegt, der Maler Angeli aus Wien sich schriftlich verpflichtet, ein ihm zuzuweisendes Portrait zu malen und das dafür gezahlte Honorar von tausend Thalern dem Vereine zu überlassen. Auch die Frau Kronprinzessin, die selbst als ausübende Künstlerin Bedeutendes leistet, gab eine werthvolle Arbeit von ihrer eigenen Hand, eine Zeichnung, ihre beiden ältesten Töchter darstellend. Besonderen Anklang fanden die höchst originellen humoristischen Federskizzen berühmter Künstler, die auf Veranlassung des genialen Meyerheim in einer heitern Stunde mit zauberhafter Geschwindigkeit auf ordinäres Papier mit gewöhnlicher Tinte in übermüthiger Laune hingeworfen und ebenso schnell vergriffen wurden, sodaß sie fortwährend nachgeliefert werden mußten, da man sich förmlich um die im Stile der Münchener Bilderbogen gezeichneten komischen Blätter riß. Auch die Schriftstellerwelt war durch eigens für den Bazar bestimmte geistvolle Autographen vertreten; außerdem fehlte es nicht an reizenden Arbeiten von zarter, schöner Hand, an Quincaillerien, Wäsche und Stickereien, an silbernen und goldenen Schmuckgegenständen. Die Prinzessin Charlotte hatte einen selbstgenähten Kinderanzug, Prinz Waldemar eigene Papparbeiten und die übrigen kronprinzlichen Kinder Bücher und Spielsachen aus ihrem Vorrath geschenkt.

Durch das Zusammenwirken aller dieser Kräfte wurde natürlich auch ein höchst glänzender Erfolg erzielt und die Summe von fünfzehntausend Thalern zum Besten des Lette-Hauses eingenommen, worin jetzt der Verein mit allen seinen verschiedenen Anstalten sich dauernd angesiedelt hat. Um diese genauer in Augenschein zu nehmen, wollen wir dem so interessanten Gebäude einen kurzen und hoffentlich lohnenden Besuch abstatten.

Treten wir durch das Portal in das Innere des Gebäudes, so erblicken wir zunächst einen großen Saal, die im Erdgeschosse gelegene Restauration worin die in dem sogenannten „Victoria-Stifte“, das wir uns noch später ansehen werden, wohnenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_400.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)