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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

hat, die allgemeine Achtung und Zuneigung der gesellschaftlichen Kreise. In Leipzig fand ich in ihm einen sehr achtbaren Schauspieler, der seinen Mann überall stellte und sich als eine durchaus schätzenswerthe Kraft in einem guten Schauspielensemble bewährte. So weit reichte sein Talent, gesteigert durch große Bühnengewandtheit und Erfahrung; zum Fluge in höhere Regionen, in das Reich der Phantasie, der Ideale, waren ihm keine Schwingen gewachsen.

Das Fach der Intriguants und ernsten wie komischen Charakterrollen bekleidete Baudius. Ein durch und durch routinirter Schauspieler, suchte er seine Stärke nicht sowohl in dem innerlichen Erfassen der Charaktere wie vielmehr in ihrer äußerlichen Repräsentation. Die Maske war ihm die Hauptsache. Wenn er beschäftigt war, konnte man ihn sicher schon Nachmittags um drei Uhr in’s Theater gehen sehen. Stundenlang brachte er mit dem Schminken zu, auf das er eine Sorgfalt verwendete, wie vielleicht vor ihm und nach ihm keiner seiner Kunstgenossen. Sonderling, wie er hierin war, auch sonst in seinen Gewohnheiten, gab er in der Garderobe oft Veranlassung zu den komischsten Scenen. Bei der schon erwähnten Collegialität, die unter Ringelhardt eine der schätzenswerthesten Eigenthümlichkeiten seines Personals war, fehlte es nicht an den amüsantesten Scherzen, die namentlich Lortzing und Reger während des Ankleidens sich mit Baudius zu erlauben pflegten und deren Erzählung bald die Runde in den Theaterkreisen machte und immer die allgemeinste Heiterkeit erregte.

Von großer Vielseitigkeit und Verwendbarkeit waren fast sämmtliche Mitglieder des damaligen Leipziger Theaters, die Repräsentanten der ersten Fächer sowohl wie die, welche eine secundäre Stellung bekleideten. So vor Allen Stürmer, der ja noch heutzutage der Leipziger Bühne angehört. In der Oper wie im Schauspiele thätig, verging fast kein Abend, an welchem er nicht beschäftigt war. Immer mit dem vollsten Ernste bei der Sache, von getreuester Pflichterfüllung in seinem Berufe, hielt er auch die kleinste Rolle nicht für zu unbedeutend, um ihr, so viel nur irgend in seinen Kräften stand, gerecht zu werden. Seine Gewissenhaftigkeit in allen Dingen machte ihn dem Theater nützlich, bei den Collegen geachtet und Allen, die in nähere Beziehung zu ihm traten, werth.

Endlich muß ich in der Erinnerung an die Ringelhardt’sche Theaterzeit noch einer jugendlichen Kraft erwähnen, die damals auftauchte und, an passender Stelle mit Geschick verwendet, sich sehr bald recht nützlich und überaus günstig bemerkbar machte. Die Mittel, über welche das Leipziger Ballet zu jener Zeit verfügte, waren höchst bescheiden; sie reichten gerade nothdürftig hin, um in den großen Opern die Balletmusik nicht ohne entsprechende Begleitung auf der Bühne ausführen zu lassen. Die talentvollste unter den Balletangehörigen war ein junges, hübsches Mädchen von anmuthiger Gestalt und graziösen Formen, auch von ausdrucksvoller Mimik, so daß ihr Partien wie die „Helene“ in Meyerbeer’s „Robert“ anvertraut werden konnten und von ihr mit bestem Erfolge ausgeführt wurden. Aber in der jugendlichen Ballerina schlummerte ein anderes Talent, das nur geweckt und gepflegt zu werden brauchte, um sich in günstigster Weise zu verwerthen. Es war der Keim zu einer sehr tüchtigen Schauspielerin, der bald zu Knospen und Blüthen trieb. In kleinen Rollen zuerst, dann in bedeutenderen verwendet, schuf die angehende Künstlerin eine Anzahl reizender Gestalten, deren Schmuck eben die jugendliche Anmuth und die einfache, ungekünstelte Natürlichkeit der Darstellerin war. Ihre „Titania“ im „Sommernachtstraum“, „Hermine“ im „Vicomte von Letorières“, „Renate“ in „Christoph und Renate“ hatten ebenso das Gefällige der Erscheinung wie die herzige Naivetät des Ausdrucks für sich. Die junge Dame, von der hier die Rede, war Agnes Kretzschmar, welche später als Agnes Wallner in der Theaterwelt ein großes Renommée erlangte.

Das Repertoire der Leipziger Bühne unterschied sich unter Ringelhardt in keiner Weise von dem anderer Theater. So sehr er als praktischer Theaterdirector als Muster gelten konnte, in höherer, künstlerischer Beziehung ragte er nicht hervor. Von einem bestimmten, auf poetische und ästhetische Interessen gerichteten Plane war nicht die Rede. Davon wußte man überhaupt zu jener Zeit nicht viel. An den Hofbühnen galt es meist der Befriedigung egoistischer Neigungen und wechselnder Launen, an den Stadttheatern handelte es sich nur um möglichst gute Einnahmen. Um diese zu erzielen, wurde nun Alles durcheinander gegeben, ein Zustand, der wohl auch heute noch nicht verschwunden ist, insofern aber wenigstens eine wesentliche Besserung erfahren hat, als man von der Ueberschwemmung mit französischen Bühnenstücken, welche damals fast ohne jede Auswahl, frisch, wie sie aus den Uebersetzungsfabriken hervorgingen, gegeben wurden, zurückgekommen ist und fast allerwärts für eine reichere Aufnahme der classischen Werke Sorge getragen hat, ganz besonders aber die Pflege Shakespeare’scher Werke sich angelegen sein läßt. Jene Zeit, von welcher ich hier spreche, war noch so weit zurück darin, daß man in Leipzig statt der „Bezähmten Widerspenstigen“ z. B. die verwässerte Holbein’sche Komödie „Liebe kann Alles“ gab, daß man es ruhig hinnahm und es vielleicht gar als eine beifallswürdige Besonderheit ansah, wenn an Schiller’s Geburtstag, der damals in keiner Stadt in Deutschland so gefeiert wurde wie gerade in Leipzig, das Theater, statt eines der Schauspiele des großen Dichters zur Aufführung zu bringen, ein Quodlibet von Scenen aus allen Schiller’schen Stücken vor den Augen der Zuschauer erscheinen ließ, eine Geschmacksnaivetät oder Geschmacksverirrung, von der man heute wohl kaum mehr sich einen Begriff machen kann.

Der Cassenzweck, welcher als höchstes Ziel vorschwebte, wurde durch ein möglichst buntes Repertoire, sowie durch rasche Aufnahme von Novitäten und häufige Gastspiele zu fördern gesucht. Wählerisch war man bei den Neuigkeiten durchaus nicht; was neu war, suchte man eben zu nutzen. Es kam auch wohl vor, daß ein Stück, welches man am Abend der ersten Aufführung ausgepfiffen hatte, wiederholt wurde, in der Erwartung, der vorauszusehende abermalige Lärm würde ein recht volles Haus machen. Dies war beispielsweise bei den „Geheimnissen von Paris“ der Fall, einer jämmerlichen theatralischen Bearbeitung des damals von der Leserwelt gierig verschlungenen Sue’schen Romans. Das Machwerk fiel glänzend durch, erlebte aber gleichwohl eine Wiederholung, bei welcher es abermals unter Zischen und Pfeifen zu Grabe getragen wurde.

Von den Gastspielen, welche aus jener Zeit in meiner Erinnerung haften, nenne ich zuerst das der Schröder-Devrient. Die große Künstlerin war damals nicht mehr in dem Vollbesitze ihrer Mittel, die ihr früher überall die glänzendsten Triumphe gesichert hatten. Die Stimme hatte ihre Fülle verloren, und den Ansprüchen an Höhe und Kraft konnte sie nur noch mit Mühe genügen. So versicherten Alle, welche sie in den vergangenen Jahren gehört und bewundert hatten, und die ruhmvollste Vergangenheit konnte nicht verhindern, daß sich jetzt in den lauten Beifall auch vereinzelte Zischlaute einzelner rücksichtsloser, nur mit dem Moment beschäftigter Zuhörer mischten. Gleichwohl war die Sängerin immer noch bedeutend genug, um Denjenigen, welcher nicht durch Vergleiche mit einer frühern Zeit in seiner Auffassung beschwert war, zur Bewunderung hinzureißen. Die dramatische Kraft, welche sich in ihren Darbietungen aussprach, war ebenso mächtig und überwältigend wie der Zauber ihrer persönlichen Erscheinung unwiderstehlich. Ich hörte und sah sie als „Romeo“ in der Bellinischen Oper, als „Marie“ in Gretry’s „Blaubart“ und als „Valentine“ in den „Hugenotten“. Unverwischbar sind mir die Eindrücke geblieben, welche ich von diesen in dramatischer Hinsicht vollendeten Kunstgestaltungen empfing, und so oft ich diese Opern wieder hörte, immer drängte sich mir unvermeidlich in den betreffenden Partien das Bild der unvergleichlichen Schröder-Devrient wieder auf.

In der Ostermesse, der letzten unter Ringelhardt’s Direction, gastirte Rott von Berlin und dann seine Kunstgenossin Charlotte von Hagn. Rott machte als „Richard der Dritte“ einen besonders mächtigen Eindruck auf mich. Er war ein Schauspieler, der über große Mittel verfügte, seiner Persönlichkeit wie seinem Organe nach, stark genug, um der Träger großer Rollen und großer Stücke zu sein. Der Vorwurf komödiantischer Velleitäten, etwas äußerlicher Effectspielerei, einer gewissen Manierirtheit traf ihn häufig nicht ohne Grund; doch mußte man ihm ein bedeutendes schauspielerisches Talent und vollkommene Bühnengewalt zugestehen. Oft wird, was positiv nicht ganz zweifellos erscheint, durch die Negation zur vollen Klarheit gebracht. Von allen Nachfolgern, welche Rott an der Berliner Hofbühne seither gehabt hat, ist ihm in schauspielerischer Beziehung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_436.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)