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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

beginnt durch die weite Ebene wie toll dahin zu rasen, und wir drücken uns in eine Ecke des Coupés und beginnen recht sanft zu schlafen – etwa zwei Stunden lang, dann werden wir durch einen kräftigen Ruck des Waggons aufgerüttelt; halb schlaftrunken noch, werfen wir einen Blick rechts durch das Fenster des Waggons, und ein Ausruf des Erstaunens, der Ueberraschung, ja des Entzückens entfährt unsern Lippen. Vor unsern Augen breitet sich eine weite seeartige Wasserfläche aus – wir sind am Ende des Juni – der Himmel ist sonnenblau, aber das Azurblau desselben ist blaß gegen die tiefe Ultramarinfarbe des immensen Wasserspiegels, dessen glatte, nur hier und da von einem Luftzug gekräuselte Fluth die hoch im Aether stehende Sonne an verschiedenen Stellen mit ihrem flüssigen Golde färbt. Das Gold und das Blau fließen ineinander und gehen in der Ferne in einen Silberton über, in welchem Wasser, Horizont und Luft verschwimmen. Sanfte Hügelwellungen steigen rings aus der Fluth empor und grenzen dieselbe in zwei weiten Halbkreisen wie eine Bucht von dem übrigen Spiegel ab, der sich vorwärts auf Stunden weit ausbreitet. Diese Erhöhungen sind mit dichtem Grün bedeckt; es ist nicht die düstere Farbe der Kiefern, auch nicht das Grün des Buchen- oder Eichenwaldes: es sind Obstbaumpflanzungen, die sich ununterbrochen über das ganze Hügelterrain fortziehen; auch nicht ein einziges kahles Fleckchen ist zu erblicken. Mitten aus der blauen Bucht hebt sich eine Insel in einer sanften Erhöhung empor; mit derselben entsteigen der glatten Fluth menschliche Wohnungen; hart am Ufer liegen in malerischer Gruppirung Fischerhütten, erkennbar an den davorliegenden Kähnen und den aufgespannten Netzen; weiter nach der Höhe hin tauchen aus den niedrigen rothen Ziegeldächern stattliche Giebelhäuser aus rothen Ziegelsteinen empor; und auf der Spitze des mitten aus der runden Buchtung auftauchenden Eilandes erhebt sich, die Menschenwohnungen weit überragend, eine gothische Kirche, die ihre spitzen Thürme und Thürmchen mit dem reichen steinernen Laubwerke und dem von den Sonnenstrahlen vergoldeten Kreuze wie eine stille Hymne in den goldenen Aether emporhebt. Sind wir noch in einem Traume befangen, haben die Bilder der Gegenden, in denen wir noch vor zwei, drei Tagen geweilt haben, sich so mächtig an unserer Phantasie erwiesen, daß sie plötzlich in frischer Lebendigkeit hier vor uns aufsteigen?

Unser Blick ist nicht mehr schlaftrunken; das wie eine Fata Morgana vor uns aufsteigende herrliche Landschaftsbild hat ihn plötzlich erhellt, und unmittelbar rechts und links von unserem Waggon schauen wir in die üppigste Vegetation. Aus dem tiefgrünen Laube blinkt die große braune Kirsche; fast der ganze Boden ist mit Erdbeerpflanzen bedeckt; an den Mauern und Bretterwänden sehen wir Aprikosen-, Pfirsich- und Weinspaliere. Zwischen den Obstbäumen ziehen sich noch dichte Himbeer- und Johannisbeerhecken durch; Alles wuchert und grünt, blüht und reift, und wo der Himmel nur irgend einen Sonnenstrahl hindurch läßt, da hat die Menschenhand einen Baum gepflanzt, daß die Himmelsleuchte durch Licht und Wärme sich zu Früchten gestalte und den Menschen zu einem köstlichen Genusse werde. Es ist eine Entfaltung der Natur, wie man sie nur im Süden kennt; es ist ein Landschaftsbild, das man an jedem andern vom Himmel gefallenen Fleck Erde vermuthete, nur nicht hier in der Mark.

Aber sind wir auch in der Mark?

Gewiß. In einer Viertelstunde sind wir in Potsdam, in drei Viertelstunden in Berlin.

Und wie heißt die Insel, die dort im See liegt?

Es ist kein See – es ist die Havel, und der Ort heißt Werder und bedeutet einen von Wasser umflossenen Ort. Der Name ist also deutsch; jedenfalls ist aber anzunehmen, daß, wie so viele Orte in der Nähe des Inselstädtchens, auch dieser einen slavischen Namen getragen habe. Die Kirche hat in der Mark mit den slavischen Elementen aufgeräumt; ihr war die schwierige Arbeit beschieden; ihr gehören die großen Erfolge der Germanisirung dieser Gegenden, und sie mag auch den slavischen Namen der Halbinsel in den deutschen umgewandelt haben. Bereits im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts war Werder im Besitze des benachbarten Klosters Lehnin und blieb es bis zur Reformation. Da nahm Joachim der Zweite von Brandenburg, wie so viele andere deutsche Fürsten, den geistlichen Herren die große Mühe, so viel Land und Leute regieren und verwalten zu müssen, bereitwilligst ab und setzte sich in Besitz der Klostergüter, die aus vierundzwanzig Dörfern und so und so viel Vorwerken bestanden. Nun wurde Werder kurfürstliches Domanialgut, aber es blieb immerhin ein ziemlich unbedeutender Flecken bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein, wo für den aus achtzehn Bürgern (Hüfern) und achtundzwanzig Kossäthen (Halbbürgern) bestehenden Ort eine Zeit des Aufblühens anfing.

Bald nach dem Antritt seiner Regierung begann Friedrich Wilhelm der Erste, der Vater Friedrich’s des Großen, jene bauliche Neugestaltung der Residenz Potsdam, die später sein großer Sohn bis zum Ende seiner Regierung vollendete. Er machte den Anfang mit dem sogenannten holländischen Viertel, mit Häusern, wie sie damals an den Grachten der holländischen Städte zu sehen waren, von rothen Ziegelsteinen mit weißen Steineinfassungen um Thüren und Fenster. Durch den großen Bedarf an Baumaterial entstanden auf der Werder’schen Feldmark die ersten Ziegelbrennereien und legten so den ersten Grundstein zu einer Industrie, die sich bis heutigen Tages bei der in Berlin herrschenden Bauwuth zu einer erstaunlichen Höhe emporgeschwungen und die schon damals in verhältnißmäßig kurzer Zeit dem kleinen Orte zu einer Zunahme an Einwohnern und zu einem gewissen Wohlstande verholfen hatte. Aber der Lehmboden war es nicht allein, aus dem eine so wichtige Existenzquelle für das Städtchen geschaffen wurde; Werder bekam auch noch eine Garnison und zwar einen der merkwürdigsten Truppentheile, die wohl je in einer Armee existirt haben. Friedrich Wilhelm der Erste hatte das Leib- oder Königsregiment errichtet, jene Riesengarde, welche die Bewunderung Europas erregte und für die in der ganzen Welt die längsten Menschenkinder geworben oder eingefangen wurden. Was für ein weibliches Herz die Brillanten sind, das waren für ihn seine langen Blauröcke.

Er war ein frommer Mann; aber wahrscheinlich konnte er sich auch den lieben Gott nicht anders vorstellen, als in der Uniform seines Riesenregimentes und von wenigstens sechs Fuß Länge. Im Regimente waren Franzosen, Italiener, Spanier, Portugiesen, Ungarn, Croaten, Polen, Böhmen, Engländer, Russen, Türken, Schweden, ja selbst Aethiopier. Die Grenadiere waren nicht in großen Casernen vereinigt, sondern in Bürgerhäusern untergebracht; diese Häuser ließ der König den Bürgern mit der Verpflichtung bauen, so und so viel Mann dafür aufzunehmen, für sie zu kochen, zu scheuern, überhaupt alle Handreichungen des häuslichen Lebens zu verrichten. Kein Soldat durfte Handarbeit verrichten, und Alles, was er brauchte, mußte ihm von der Wirthin geholt werden.

Nach Werder verlegte Friedrich Wilhelm der Erste hundertfünfzig Mann des Regimentes, namentlich junge Leute. Hier hatte er für sie ebenfalls Wohnungen wie in Potsdam bauen lassen; hier konnten sie nicht desertiren. Das war bei einer Truppe, die nur durch den sclavischen Gehorsam und durch die Furcht vor der allerdings grausamen Strafe zusammengehalten wurde, beständig zu gewärtigen. Die sächsische Grenze lag in der Nähe, und hatte dieselbe Einer erreicht, so war er frei von allen Fesseln, mit denen ihn hier eine eiserne Disciplin gefangen hielt. Potsdam war ein militärisches Kloster und Werder seine Filiale. Wer hier eintrat, für den war die Hoffnung zu Ende, für den gab es keine andere Aussicht mehr, als etwa die auf ein Grab des Garnisonkirchhofes. Hier regierte nur das Reglement, der Stock, die Disciplin. Exerciren und Wachtdienst thun, damit ward das ganze Leben hingebracht, und den übrigen leeren Raum füllte eine ungeheure Monotonie. Dabei befanden sich materiell die Leute noch in einer günstigen Lage. Sie wohnten gut; sie waren vortrefflich verpflegt; manche, namentlich Leute von Stande, bekamen bis zu zwanzig Thalern monatliche Zulage; sie waren nicht mit übermäßigem Dienste geplagt; sie trugen eine prächtige Uniform – aber alle diese Vortheile, was waren sie für elende Nothbehelfe für den Athem der Freiheit, nach dem selbst die stupideste Menschenseele ringt, wenn er ihr fehlt, für jenen Drang der Selbstbestimmung, der sich sagt: „Ich bin ich mit allen Kräften meines Lebens, mit allem Willen meiner Seele; ich bin ich und kein Anderer, und wenn ich mich einem äußeren Gesetze unterwerfe, so thue ich es mit vollem Bewußtsein meiner Freiheit, meiner Einsicht und des Pflichtgefühls, das die Unterwerfung des Einzelnen unter das Ganze fordert.“ Erst eine spätere Zeit allerdings

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_441.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)