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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Sie machte eine verneinende Bewegung. „Nichts! Ich wartete nur auf Dich.“

„Hier? Und zu dieser Stunde?“ fragte Reinhold auf’s Aeußerste befremdet. „Was fällt Dir denn ein?“

„Ich sehe Dich ja fast nie mehr,“ war die leise Antwort, „höchstens noch bei Tisch in Gegenwart der Eltern, und ich wollte Dich einmal allein sprechen.“

Sie hatte bei diesen Worten die Lampe angezündet und auf den Tisch gestellt. Die junge Frau trug noch das dunkle Seidenkleid, das sie heute Abend im Theater getragen; es war freilich auch schmucklos und einfach genug, aber doch nicht so derb und unkleidsam wie ihre gewöhnlichen Hausanzüge. Auch die sonst immer unvermeidliche Haube war verschwunden, und jetzt, wo sie fehlte, sah man erst, welch ein seltener Reichthum sich unter ihr geborgen hatte. Das blonde Haar, das sonst immer nur in einem schmalen Streifen sichtbar wurde, ließ sich kaum bergen in den schweren Flechten, die sich jetzt ist ihrer ganzen prachtvollen Fülle zeigten; aber dieser natürliche Schmuck, mit dem wohl jede andere Frau geprunkt hätte, wurde hier beinahe ängstlich Tag für Tag versteckt, bis ein Zufall ihn enthüllte, und doch schien er dem Kopfe ein ganz anderes Gepräge zu geben.

Reinhold hatte wie gewöhnlich kein Auge dafür; er sah die junge Frau kaum an und hörte nur flüchtig und zerstreut auf ihre Worte. Es lag auch nicht die leiseste Spur eines Vorwurfs darin, aber er mußte doch so etwas herausfühlen, denn er sagte ungeduldig:

„Du weißt doch, daß ich gerade jetzt von allen möglichen Seiten in Anspruch genommen werde. Meine neue Composition, die in den letzten Wochen vollendet wurde, ist heute Abend zum ersten Male in die Oeffentlichkeit getreten –“

„Ich weiß es,“ unterbrach ihn Ella, „ich war im Theater.“

Reinhold stutzte. „Du warst im Theater?“ fragte er rasch und scharf. „Mit wem? Auf wessen Veranlassung?“

„Ich war allein dort. Ich wollte –“ sie stockte und fuhr dann zögernd fort: „ich wollte doch auch einmal Deine Töne hören, von denen alle Welt spricht, und die nur ich nicht kenne.“

Ihr Gatte schwieg und sah sie forschend an. Die junge Frau verstand sich schlecht auf die Verstellung, und die Lüge wollte nicht über ihre Lippen. Sie stand vor ihm, todtenblaß, bebend an allen Gliedern; es bedurfte keines besonderen Scharfblickes, um hier die Wahrheit zu errathen, und Reinhold errieth sie sofort.

„Und allein deshalb gingst Du?“ sagte er endlich langsam. „Willst Du mich täuschen mit dem Vorwande oder vielleicht Dich selber? Ich sehe, das Gerücht hat bereits bis zu Dir seinen Weg gefunden, Du hast mit eigenen Augen sehen wollen – natürlich! Wie konnte ich auch glauben, daß es mir und Dir erspart bleiben würde!“

Ella blickte auf. Das war wieder die finster umschattete Stirn, die sie stets an ihren Gatten zu sehen gewohnt war, der Blick düsterer Schwermuth, der Ausdruck eines trotzig niedergehaltenen Leidens, kein Hauch mehr von jenem strahlenden Triumphe, der vor wenig Stunden seine Züge so verklärte; das war ja draußen gewesen, fern von den Seinen; für die Heimath blieb nur der Schatten übrig.

„Warum antwortest Du nicht?“ begann er von Neuem. „Denkst Du, ich wäre Feigling genug, die Wahrheit abzuleugnen? Wenn ich sie Dir bisher verschwieg, so geschah es aus Schonung für Dich; jetzt, wo Du sie kennst, werde ich Dir Rede stehen. – Man hat Dir von der jungen Künstlerin erzählt, der ich die erste Anregung zum Schaffen, meinen ersten Erfolg und den heutigen Triumph danke. Man hat Dir das Verhältniß zwischen uns, Gott weiß wie, geschildert, und Du hältst das nun natürlich für ein todeswürdiges Verbrechen.“

„Nein. Aber für ein Unglück.“

Der Ton dieser Worte hätte wohl Jeden entwaffnet; auch Reinhold’s Gereiztheit hielt nicht Stand davor. Er trat ihr näher und ergriff ihre Hand.

„Armes Kind!“ sagte er mitleidig. „Ein Glück war es freilich nicht, was der Wille Deines Vaters Dir bestimmte. Du mehr als jede Andere bedurftest eines Gatten, der Tag für Tag im ruhigen Kreislaufe der Alltäglichkeit wirkt und schafft, ohne auch nur mit einem Wunsche darüber hinauszureichen, und gerade Dich hat das Schicksal an einen Mann gekettet, den es gewaltsam fortreißt auf andere Bahnen. Du hast ganz Recht: das ist ein Unglück für uns Beide.“

„Das heißt: ich bin es Dir,“ ergänzte die junge Frau tonlos. „Sie freilich wird es wohl besser verstehen, Dir Glück zu geben.“

Reinhold ließ ihre Hand fallen und trat zurück. „Du bist im Irrthum,“ versetzte er beinahe rauh, „und verkennst vollständig das Verhältniß zwischen Signora Biancona und mir. Es ist ein rein ideales gewesen vom ersten Augenblicke an, und ist es noch bis zu dieser Stunde. Wer Dir etwas Anderes gesagt hat, ist ein Lügner.“

Es schien, als wolle Ella aufathmen bei den ersten Worten; aber bei den nächsten schon zog sich ihr Herz wie im Krampfe zusammen. Sie wußte, daß ihr Gatte keiner Lüge fähig sei, am wenigsten in solchem Augenblicke, und er sagte ihr, das Verhältniß sei ein ideales. Noch war es das, daran zweifelte sie nicht, aber auf wie lange? Sie hatte heute Abend im Theater selbst die dämonischen schwarzen Augen leuchten sehen, denen so leicht nichts widerstand, hatte gesehen, wie jene Frau in ihrer Rolle die ganze Stufenleiter der Empfindungen bis zur höchsten Leidenschaft hinauf durchlief, wie diese Leidenschaft das Publicum zum Beifallssturme fortriß, und sie konnte sich unschwer sagen, daß, wenn es der Italienerin beliebt hatte, bisher nur die beglückende Muse zu sein, die den jungen Tondichter an ihrer Hand in das Reich der Kunst einführte, wohl die Stunde kommen werde, wo sie ihm etwas Anderes sein wollte.

„Ich liebe Beatrice,“ fuhr Reinhold mit einer Aufrichtigkeit fort, von deren Grausamkeit er in der That keine Ahnung zu haben schien, „aber diese Liebe kränkt und verletzt keines von Deinen Rechten. Sie gilt der Musik, als deren verkörperter Genius sie mir entgegentrat, gilt dem Besten und Höchsten in meinem Leben, dem Ideale –“

„Und was bleibt dann noch für Dein Weib übrig?“ unterbrach ihn Ella.

Er schwieg betroffen. Die Frage, so einfach sie war, klang doch eigenthümlich in dem Munde seiner für so beschränkt gehaltenen Gattin. Es war ja selbstverständlich, daß sie sich mit dem begnügen mußte, was noch übrig blieb, mit dem Namen, den sie trug, und dem Kinde, dessen Mutter sie war. Sie schien das seltsamerweise gar nicht begreifen zu wollen, und Reinhold verstummte völlig vor dem ruhigen und doch vernichtenden Vorwurfe dieser Frage.

Die junge Frau stützte die Hand auf den Flügel. Sie kämpfte sichtbar mit der Furcht, welche sie von jeher vor ihrem Manne gehegt, dessen geistige Ueberlegenheit sie tief empfand, ohne gleichwohl je den Versuch zu wagen, sich zu ihm zu erheben. In dem Bewußtsein, daß er hoch über ihr stehe, hatte sie sich ihm stets unbedingt untergeordnet, ohne damit jemals etwas Anderes zu erreichen, als eine Duldung, die nahe an Verachtung streifte. Jetzt, wo er eine Andere liebte, hörte die Duldung auf; die Verachtung war geblieben – das fühlte sie deutlich aus seinem Geständnisse heraus, das er so ruhig, so sicher that; seine Liebe zu der schönen Sängerin „kränkte und verletzte ja keines von ihren Rechten“; sie hatte ja überhaupt kein Recht an sein geistiges Leben. Und diesen Mann sollte sie festhalten, jetzt, wo ihm die Liebe einer schönen, von aller Welt gefeierten Künstlerin, wo ihm der Zauberschein Italiens, wo ihm eine Zukunft voll Ruhm und Glück winkte, sie, die nichts zu geben hatte, als sich selber – Ella fühlte jetzt erst das Unmögliche der Aufgabe, die man ihr zugewiesen.

„Ich weiß es, Du hast nie zu uns gehört, nie Jemand von uns lieb gehabt,“ sagte sie mit stiller Resignation. „Gefühlt habe ich es wohl immer; klar geworden ist es mir erst, seit ich Deine Frau bin, und da war es zu spät. Aber ich bin es doch nun einmal, und wenn Du mich und das Kind verlassen, aufgeben willst um einer Anderen willen –“

„Wer sagt das?“ fuhr Reinhold mit einer Entrüstung auf, die ihn freisprach von dem Verdachte, daß ein solcher Gedanke wirklich schon in seine Seele gekommen war. „Verlassen? Dich und das Kind aufgeben? Niemals!“

Die junge Frau richtete das Auge fragend auf ihn, als verstehe sie ihn nicht.

„Du sagtest doch soeben, Du liebtest Beatrice Biancona?“

„Ja, aber –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_444.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)