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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

deutliche Merkmale langer Reisen trugen, zweifelten sie nicht an der Wahrheit meiner Aussagen.

Nach einer Pause hub der Alte – „Falkensohn“ – an zu fragen:

„Du spielst wohl schöne Lieder?“

„Einige.“

„Auch Heiligenlieder?“

„Viele,“ sagte ich.

Ich beeilte mich, zum zweiten Male mit meinem mittelmäßigen Spiele auf die rohen Gemüther einen Eindruck zu machen, welcher mir ihre Herzen öffnen sollte. Als ich deshalb mein volksthümliches Wams ablegen wollte, glitt zufällig mein Skizzenbuch aus der Tasche, welches der Eine rasch aufhob, aber, wie ich gleich erfuhr, nur deshalb aufhob, weil er es für ein Evangelienbuch hielt. – Nun, die vier Evangelisten hätte man freilich vergebens darin gesucht, und das Staunen der braunen Kerle, als sie nur kahle Felsen, Steine, alte Brücken, zerlumpte Hütten, Ziegenböcke und Schweine darin abconterfeit fanden, ist daher erklärlich. Als Hirten hatten sie doch für letztere so viel Verständniß, daß sie laut auflachten.

In der Hand meiner Kunstrichter litt auch wohl manches Blatt; bald besahen sie die Zeichnungen, bald blickten sie mich an, und ich merkte nach und nach, daß ich das Object ihres Bedauerns und Mitleids wurde. Sie raunten einander noch Einiges zu, und ich konnte mich auf die schlechteste Recension gefaßt machen. Endlich erhob der Senior des Dreirichtercollegiums mit Pathos seine rauhe Paprikastimme, und ich bekam Folgendes zu hören:

„Nun ist es uns klar und nicht mehr fremd, was Du bist. Wir sehen, Du irrst als Verfluchter in weiter Welt herum. Du bist ein schwerer Sünder. Der Papst hat Dich gestraft und Dir zur Buße und Genugthuung befohlen, das Mühsamste, Freudenloseste auf der Erde zu thun, unfruchtbare Felsen, stinkende Böcke und schmutzige Schweine haarklein zu ‚beschreiben‘ (zu malen). Hast Du schon viel abgebüßt und beschrieben? Du scheinst auch viel zu fasten und zu hungern. Das sollst Du nicht thun, damit Du wenigstens so lange lebest, bis Du die nöthige Sühne vollbracht hast.“

Ob dieser Zumuthung riß ich nicht wenig die Augen auf. Doch konnte ich mich wegen meines plötzlichen Avancements zum schweren Sünder nur freuen, denn blitzschnell wurde mir klar, daß ich bei erwecktem Mitleide auf gute Aufnahme rechnen könne, was sich auch glänzend bestätigte. Ja, ich steigerte ihre Aufmerksamkeit noch bedeutend, indem ich auf die schon abgelösten Zeichnungen, welche ich in den Hohlraum meiner Geige geschoben und gesammelt hatte, hinwies.

„Gott stärke Dich, daß Du Deine Gußla (Geige) bald voll bekommst, damit Du sie dann zum Papste tragen und ihm zeigen kannst! Dann kannst Du sie zerhauen, denn Du bist von Stund’ an erlöst.“

„Nein,“ schrie der Andere, „der Papst muß sie zerhauen, dann ist es erst aus – sonst nützt Dir Deine ganze Plackerei nichts,“ und sah mich mit einem wilden herausfordernden Blicke an, Gesagtes zu bejahen.

Ich nickte dazu und bedeutete den Hirten, daß der Papst mit dem Ergebniß meiner Buße, den Zeichnungen, wahrscheinlich auch den Hauptzweck anstrebe, den Herrschern und Machthabern in mahnender Weise das Schlechte in ihren Ländern zur baldigen Besserung vorzuzeigen. Dies hatte einen so günstigen Erfolg, daß, als wir bald hierauf zu den Hütten kamen, mir ein verhältnißmäßig gutes Mahl zu Theil wurde. Ich labte mich an einer Eierspeise, welche soeben zubereitet, auf siedendem Oele gekocht war, und trank gute Schafmolke. Da ich in den Hütten und umher keine Hühner sah und meine Kenntnisse in der Zoologie doch so weit reichen, daß ich weiß, daß Böcke und Dickhäuter keine Eier legen, erkühnte ich mich, um meine Neugierde zu befriedigen, die Frage zu stellen, von wem sie die Eier erhielten.

„Ich hatte ein Stelldichein,“ sprach der eine braune Geselle, „und mein Mädchen brachte sie mir.“

Ich dankte ihm besonders und bat ihn, seiner Geliebten meinen Dank – Gruß konnte ich nicht wagen – mitzutheilen. Die treue Schöne, welche zum Stelldichein den halben Weg zur Hütte kam, ahnte wohl schwerlich, daß ihre Liebesgabe die Hungersqualen einem schweren Sünder stillen würde. Vor und nach dem Mahle mußte ich spielen, viel spielen. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich unter Anderm auch den Kuhreigen aus Wilhelm Tell zu präludiren anfing und meinen Lauschern zum Besten gab. Wohl selten dürfte Rossini ein solches Lob erfahren haben, wie die Hirten in schlichten Worten unbewußt aussprachen. Sie fanden das Lied so schön, daß ich es dem Papste vorspielen solle – jedenfalls meinten sie zur feierlichen erhabenen Schlußscene meiner vollbrachten Sühne, ehe die Geige in den Händen Seiner Heiligkeit in Trümmer gehen sollte.

Was die Sennhütten selbst anbelangt, so ist ihre Anlage eine durchaus zufällige und deshalb ungleiche. Sie stehen auf Felsen, Steinen und Pfählen, derart gestützt, daß der Boden derselben ungefähr eine Klafter über dem Erdreiche erhaben ist und hierdurch zu unterst ein Hohlraum entsteht, welcher für die Dickhäuter bestimmt ist. Die erste Etage, in welche man nur über eine äußerst einfache Stiege und kaum ohne Balancirkunst gelangen kann, ist für die Hirten selbst und die Ziegen berechnet. Die Rinder und Schafe übernachten im Freien. Doch muß erwähnt werden, daß nicht selten die eisige Bora (Nordostwind) massenhafte Opfer in den Herden verlangt. Die Hirten und Ziegen haben in einer Thür, welche der hochgelegenen Schwelle wegen mehr einem Fenster gleicht, einen gemeinschaftlichen Eingang. Doch ist ein Theil des Innenraumes für den offenen Herd und die Käsebereitung abgeschlossen. Diese letztere ist eine äußerst primitive und wird vorwiegend mit Schaf- und Ziegenmilch betrieben. Der Käse, Topfen und Molke sind nebst Kukuruzbrod, welches aus frischem mittelst Handmühlen gewonnenem Mehle in heißer Asche gebacken wird, die vorwiegende Nahrung der Hirten. Ich habe nie schwerere Speisen genossen als diese Brode; wie Blei lagen sie mir im Leibe, und es gehört eben ein herzegoviner Magen dazu, sie zu verdauen. Schon die bloße Erinnerung an dieselben verursacht mir heute noch Magendrücken.

Der größte rückwärtige Innenraum der ersten Etage hat keinen Boden; es ist an den Hauptwänden der Hütten eine Art schmaler Laufgang angebracht, so daß man von einer Art Galerie auf die Schweineherde herabsieht. Diese Laufgänge haben selbstverständlich keine Barrière, sind sehr nachgiebig, beweglich, ja vielmehr einem Schwung- oder Springbrette zu vergleichen. Hier und da lagen Moosklumpen und Heustreu auf denselben, und ich betrachtete sie um so genauer und sie heimelten mich um so weniger an, als mir von meinen Gastgebern bedeutet wurde, daß dies unsere Schlafstätten seien. Im Geiste machte ich schon einige Turnübungen, um mich für das Liegen darauf einzuexerciren, und dachte mit Besorgniß an die Aufnahme seitens der borstigen Dickhäuter da unten, wenn ich Nachts auf sie herabfallen sollte. Rosen- und Ambradüfte wehten mir auch nicht entgegen. Hatte ich dies jetzt schon bedeutend gefühlt, so steigerte sich dieser penetrante Geruch in der Nacht zu einem unerträglichen und wahrhaft mörderischen Gestanke. Die Schlafstätte schien fürwahr nur für die allerschwersten Sünder geschaffen zu sein. Durch das Rückenreiben der Thiere an den Grundpfeilern und Wänden war die ganze Hütte stets in Schwingungen, und an Ruhe war um so weniger zu denken, da an die „Aeltesten des Volkes“ oft ein Mahn- oder Ordnungsruf von oben mittelst wuchtiger Kolbenstöße gerichtet wurde. Einige von ihnen schienen auch von bösen Träumen geplagt zu werden, und ich, der aus gerade nicht unbegründeten Sorgen nicht einschlafen konnte, befürchtete, daß vielleicht auch ein Stoß mir zwei oder drei Rippen kosten könnte. Meine Situation war eine gräßliche; meine Kopfschmerzen nahmen bedenklich zu; ich rief alle Mächte an, mich aus meiner fürchterlichen Lage zu befreien, aber hier konnte auch der Papst nicht helfen.

Ich raffte mich endlich auf und zog es trotz der Kühle vor, den Rest der Nacht im Freien am Feuer bei den wachehabenden zwei anderen Hirten zuzubringen. Infolge großer Müdigkeit lag ich auch bald in Morpheus’ Armen und schlief ohne Unterlaß, bis mich der Morgen wachrüttelte.

Tags darauf habe ich als schwerer Sünder pflichtschuldig mein Bußwerk fortgesetzt, alles Unnütze, Schiefe, Gebrochene, Innere und Aeußere der Hütte genau „beschrieben“ (gezeichnet) und auch einige meiner früheren Schlafgenossen aus dem Parterre einer künstlerischen Betrachtung gewürdigt. Ich hatte hierdurch die größte Aufmerksamkeit, vor Allem aber aufrichtiges Mitleid erweckt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_472.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)