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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

fühlte er das lebhafteste Bedürfniß, den Zusammenhang der Naturerscheinungen zu erkennen. Begeistert und mit tiefem Verständniß nahm er die Früchte der geistvollen Arbeiten eines Darwin und Häckel in sich auf und begrüßte freudig die in jüngster Zeit sich häufenden Beweise für ihre Wahrheit.

Indem er den Geist den höchsten Fragen der Wissenschaft und den edelsten Bestrebungen der Menschheit zuwendete, wurde es Bock leicht, die Leiden der letzten Jahre gelassen zu ertragen. Ein durch Ueberanstrengung entstandenes Augenübel verhinderte ihn längere Zeit an anhaltendem Lesen wie Schreiben. Er mußte sich Alles vorlesen lassen und dictirte seine Arbeiten. In Folge früherer Lungenkrankheit seit Langem nur mit zwei Drittel Lunge athmend, traten allmählich weitere Veränderungen in dieser sowie im Herzen ein. Er erkannte seinen Zustand sehr genau und wußte, daß zur Genesung keine Aussicht mehr war. Im Mai 1873 verließ er Leipzig (nachdem er noch vorher die achte Auflage des Schulbuchs bearbeitet hatte), Erleichterung und gemüthliche Erhebung in den Wäldern Thüringens suchend. Mit bewunderungswürdiger Kraft ertrug er die qualvollsten Erstickungsanfälle und durchwachte halbe Nächte; er war noch im Stande, am Tage sich geistig zu beschäftigen und voll Heiterkeit und Humor mit Menschen zu verkehren. Lange hielt er sich durch seine eiserne Willenskraft aufrecht, bis die immer heftiger auftretenden Erstickungsanfälle häufiger wurden. Wochenlang war sein Leben in Gefahr; dann trat noch einmal Besserung ein.

Im October zog er nach Wiesbaden im Bewußtsein, daß die fortschreitenden organischen Veränderungen noch heftige Steigerungen seines Leidens in Aussicht stellten, wenn nicht durch andere Möglichkeiten ein rascheres Ende herbeigeführt würde. Mit völliger Ruhe sah er dem Unvermeidlichen in’s Auge. Er bearbeitete eine neue Auflage (die zehnte) des „Buches vom gesunden und kranken Menschen“, beschäftigte sich viel mit dem Studium der Entwickelungslehre und schrieb verschiedene Artikel für die Gartenlaube, welcher er bis zuletzt treue Anhänglichkeit bewahrte.

Am 16. Februar traten leichte Lähmungserscheinungen in den rechten Gliedmaßen ein; auch das Sprechen war erschwert. Am 18. begann sich die zunehmende Lähmung den Athmungsmuskeln und der Speiseröhre mitzutheilen. Er machte mit größter Gelassenheit auf die so charakteristischen Symptome aufmerksam und bezeichnete die bevorstehende Befreiung als ein Glück für sich. Mit Umsicht traf er verschiedene Anordnungen, welche für seinen gefaßten, klaren Geisteszustand Zeugniß ablegten. Er bestimmte, daß er in Wiesbaden und zwar in einfachster, stiller Weise, ohne Geistlichkeit beerdigt werde, in Begleitung seiner Kinder und eines alten Freundes, dem er dort wieder begegnet war. Dann trug er auf, „alle seine Freunde und Bekannte zu grüßen“ und fragte nach Tag, Datum und Stunde. Es war am 19. Februar gegen Abend. Den Kindern suchte er das Scheiden zu erleichtern und hatte für jedes Einzelne ein Abschiedswort.

Erschöpft ließ er sein müdes Haupt niedriger betten und schloß mit einem Lebewohl die Augen zum letzten Schlafe. Bis zu seinem letzten Worte bewahrte er, trotz schwer verständlicher Sprache und weit ausgedehnter Lähmung, eine Würde, wie sie nur bei vollständigem innerem Gleichgewichte bestehen kann. Ohne Kampf wurden die Athemzüge schwächer, seltener. Er schien zu schlafen, als sein Herz bereits stillstand. – –

Bock war ein Mann von seltener Klarheit und Energie des Gedankens, ein unerschütterlicher, selbstloser Charakter; durchdrungen von echter Menschen- und Wahrheitsliebe war es ihm eine innere Nöthigung, das Rechte und Gute zu thun, die Wahrheit zu suchen und sie zu bekennen. Die Interessen der Gesammtheit standen ihm stets höher als die eigenen; sie vermochten ihn allezeit über persönliche Heimsuchungen zu erheben. So bietet er ein leuchtendes Beispiel, daß man auf dem Boden der modernen Naturwissenschaft stehen, den Spiritualismus bekämpfen und doch die idealsten Grundsätze zur Richtschnur seines Lebens wählen und begeistert nach der Erkenntniß des Schönen, Wahren und Guten streben kann.

Alle seine Bestrebungen galten der guten Sache. Hatte er sein Ziel erreicht, so war er befriedigt, ob ihm Anerkennung gewährt oder versagt wurde. So genügte es ihm, daß sein mit seltenem Freimuthe und unerbittlich scharfer Kritik geführter Kampf für die Reform der Medicin in Sachsen ein siegreicher war und mit dem Sturze der alten Medicin endigte, wenn er auch von Seiten der Regierung keine andere Anerkennung fand, als mit Absetzung bedroht zu werden.

Als Arzt besaß Bock den Ruf eines ausgezeichneten Diagnostikers. Seine Behandlung bestand keineswegs, wie man ihm nachzusagen liebte, in „Nichts“, sondern machte von allen naturgemäßen Hülfsmitteln in streng individualisirter Weise Gebrauch. Als erste Eigenschaft des Arztes galt ihm wahre Humanität, welche sowohl Nachsicht wie erzieherische Strenge am rechten Orte zu üben weiß. Psychische Leiden und Schwächen entgingen ihm selten, und er behandelte sie als feiner Psycholog. – Unermüdlich war er für Ausbreitung von Kenntnissen zur Gesundheitslehre thätig; auch im geselligen Verkehre ergriff er jede Gelegenheit und schuf vielfach eine solche, um, ohne Ansehen der Person, Jünger für seine Grundsätze zu werben und aufklärend auf Lehrer, Mütter, Arbeiter etc. einzuwirken.

Im Herzen seiner Schüler, auf welche er, nicht nur durch die Macht seines seltenen Lehrtalentes, sondern auch durch die Würde seines Charakters und die entschiedene Bekämpfung des blinden Autoritätsglaubens, segensreichen Einfluß geübt hat, wird sein Andenken ein lebendiges bleiben. Wie er es verstanden hat, auf die Jugend einzuwirken, mögen folgende Zeilen aus dem Briefe eines seiner Schüler bestätigen: „Er war mir ein Lehrer, dem ich Wissen und Wollen verdanke, vor Allem das unverfälschte Bekenntniß, das ununterbrochene Erforschen der Wahrheit. Leider gehört dieses Bekennen nicht zum guten Ton, und darum gilt der Träger der Wahrheit für unklug, für schroff. Was er als Lehrer den Studenten gewesen ist und hätte werden können, wenn man ihn nicht daran gehindert hätte, was er aber als Lehrer des Volks gewesen ist – das führt ihn ein in die Hallen der Unsterblichkeit.“

Unter den Vorwürfen, die gegen Bock erhoben wurden, war wohl der häufigste: „er ist ein heftiger, rücksichtsloser, grober Mann.“ Kein Wunder! Ebenso, daß eine Anzahl theils erfundener Anekdoten, theils entstellter Vorgänge erzählt wurden zum Belege dafür. Nicht soll hier behauptet werden, daß er in seiner Polemik gegen gemeinschädliche Verkehrtheiten, Humanitätsheuchelei und Scheinliberalismus, die er allerwärts umherwuchern sah, seidene Handschuhe angezogen hätte, auch soll nicht verschwiegen werden, daß ihm unter Umständen Heftigkeit und eine gewisse Schroffheit eigen sein konnten. Ganz besonders schien es seinen Zorn zu reizen, wenn er dünkelvolle Unwissenheit und Anmaßung, inhumanes Benehmen (besonders gegen Untergebene) in sogenannten gebildeten Kreisen traf, denn hier pflegte er seinem Spott mit Vorliebe freien Lauf zu lassen oder seine Mißbilligung sehr deutlich auszusprechen.

Sehr verschieden führte er jedoch seine Streiche, je nachdem er nur Vorurtheil, Schlendrian, Unverstand u. dgl. oder bösen Willen, Gewissenlosigkeit und Heuchelei vor sich sah. Nicht selten war aber seine Derbheit gewissermaßen nur die Hand, die er vor sein Gesicht hielt, um seine eigene Rührung zu verbergen, denn er barg unter einer rauhen Schale ein reiches und tiefes Gemüth, von welchem sich Züge der größten Zartheit erzählen ließen. Er liebte es einmal nicht, Gefühle blicken zu lassen, geschweige mit denselben zu prunken. Der diese Zeilen schreibt, war Zeuge, wie ein Lehrer, dem Bock im tiefsten Elende wirksamen Beistand geleistet hatte, seinen überströmenden Dankgefühlen Ausdruck lieh. Bock zerdrückte sich Thränen im Auge und – verwies ihm fast rauh weiteres Danken. Hülfe spenden war ihm zur andern Natur geworden, und er hatte sich in den Ruf eines reichen Mannes gebracht, der er nicht war, weil er reichlich, oft und gern spendete.

Für Naturschönheit und Kunst hatte er ein feinsinniges Verständniß, und nächst der Arbeit waren sie in den verschiedenen Nüancen des Lebens seine Trösterinnen. Heiterkeit und Humor begleiteten ihn trotz aller Kämpfe und manch’ bitterer Enttäuschung durch’s Leben; auch während seiner Leidenszeit blieben sie ihm großentheils noch eigen.

Die Saat, die Bock für Volkserziehung und Volksaufklärung ausgestreut, sie wird aufgehen und noch fortwirken zu einer Zeit, wo sein Name nur noch von Einzelnen gekannt sein wird. Denn er stand im Dienste jener Mächte, welche nur mit der Menschheit selbst untergehen; er war ein Apostel der Erkenntniß, der Wahrheit und der Humanität.

C. E.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_482.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)