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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Krottenkopfs aus dem gleichmäßigen Dunkel des Fichtenwaldes empor, während ferne im äußersten Osten die kalkweiße Spitze des Hochwärner’s im grellen Sonnenlichte glänzt.

Neun Inseln erheben sich über das düstere, unheimliche Gewässer. Die größeren sind völlig mit üppigen Büschen glühender Alpenrosen überwachsen, die den felsigen Boden wie mit einem purpurnen Teppich überziehen, in den vereinzelte blaue und gelbe Blumen eingewebt sind; über ihre dichten Sträucher erheben verkrüppelte Föhren und Birken und spärliche Lärchen die knorrigen Kronen. Die kleineren sind kahl, öde, todt; kein Baum verstreut Schatten; keine Staude, kein Grashalm säumt den Rand der Klippe; nur riesige Felsblöcke, die Eisgang und Sturmfluth wirr übereinander geschichtet, bieten der zürnenden Welle ihre verwitterten Stirnen.

Der größten dieser Inseln gegenüber, da, wo die Welle des Sees sich an der Felsenwand der Zugspitze bricht, liegt eine einsame Hütte, die letzte Menschenansiedlung an der Grenze der Steinwüste. Aus ihrem verfallenen Schlote steigen dünne, weiße Rauchwölkchen zum tiefblauen Himmel empor, der in wolkenloser Klarheit auf die Wildniß herniederlacht. Das armselige Haus ist halb zerfallen. Wind und Wetter haben seine Tünche verwischt, Rauch und Ruß es geschwärzt; Thür und Laden schlottern in den Angeln; Sparren und Schindeln sitzen locker in den Fugen; Schwellen und Dielen, Balken und Bohlen sind vermodert und veraltert. Große zerrissene Fischernetze hängen unordentlich an den Wänden des Hauses umher und sind auf den vor der Hütte aufgeschichteten Holzklötzen und ‑Scheitern zum Trocknen ausgebreitet. Zwei verwahrloste Kähne liegen auf dem Ufer, wenige Schritte vor der Thür des Hauses. Hinter Diesem, gegen die Zugspitzwand hin, ist ein kleines Fleckchen Land urbar gemacht und umzäunt, auf dem einige verkümmerte Kartoffelpflanzen ihr kärgliches Dasein dem unwirthlichen Boden abringen.

Eine Schaar barfüßiger und barhäuptiger Kinder spielt vor der Hausthür; ihre plumpen Gestalten sind nur nothdürftig in ärmliche, vielfach geflickte Kleider gehüllt, ihre Gesichter sonnenverbrannt, rund und breit, mit groben unschönen Zügen, von dicken, straffen, blonden Haaren umrahmt. Scheu und verwundert schauen sie mit großen, blaugrauen, wildschüchternen Augen zu dem Fremden empor. Die Stube, in welche dieser tritt, ist groß und düster, von zwei niedrigen Fenstern nur nothdürftig erhellt; die Wände sind von Rauch und Ruß, Staub und Schmutz geschwärzt. Ein ungeheurer, aus Backsteinen aufgebauter Ofen, um den sich eine breite Bank herzieht, nimmt fast den vierten Theil ihres Raumes ein, ein ärmliches Bett, ein vor Alter morscher Tisch, der zugleich als Hobelbank dient, ein plumper Schrank lehnen an den Wänden umher, an denen schlechtes Hausgeräthe und eine verrostete Flinte aufgehängt sind; in der Ecke zwischen den beiden Fenstern ist ein roh geschnitztes Bildniß des gekreuzigten Heilands angebracht, das mit frischen Alpenrosen und schwarzgrünen Eibenzweigen bekränzt ist; denn der wunderbare Baum des Märchens, der dem unheimlichen Alpensee den Namen gegeben, gedeiht noch immer in den heimlichen Winkeln seiner Felsenufer, wo er vor den habgierigen Händen des Menschen ein sicheres Versteck gefunden. Ein zahmes Rothkehlchen fliegt munter in der Stube umher und macht Jagd auf die großen Fliegen, die in ungeheuren Schwärmen in der Stube auf- und abschweben und mit eintönigem Summen den Raum erfüllen. Auf einem der Fenstersimse steht ein winziger Vogelbauer, an dessen Drahtgitter eine ruhelose Tannenmeise herumflattert.

Mitten in der dumpfigen Stube sitzen an plumper Schnitzbank ein alter, verwitterter Greis und ein junger Bursche, emsig beschäftigt, Schindeln aus den großen Holzblöcken zu schneiden, die unordentlich auf dem Boden herumliegen; eine grobknochige Dirne lehnt auf der Ofenbank und flickt ein Fischernetz. Die drei Menschengestalten sind klein und stämmig, ihre Haare dick und dunkelblond, die Züge der beiden Gesichter derb und plump und von einer in hohem Grade auffälligen Familienähnlichkeit; ihre Augen sind groß, grau und stier, von scheuem, störrischem, fast thierischem Ausdruck. Stumpfsinn und Rohheit zucken um die breiten, von brutaler Sinnlichkeit geschwellten Lippen.

Wir sind im Hause der „Zigeuner am Eibsee“. –

Derjenige, der zum ersten Male der „Zigeuner am Eibsee“ gedacht, hat der gläubigen Welt eine arge Lüge aufgebunden, welche durch Bädeker’s Reisehandbuch in den weitesten Kreisen als nie angezweifelte Thatsache verbreitet worden ist. Die Fischeransiedelung am Eibsee stellt das typische Bild eines im Laufe der Jahrhunderte heruntergekommenen altbairischen Geschlechts dar.

Sie besteht aus zwei Familien, die in einer in Deutschland sonst unerhörten Weise sich fortgepflanzt haben und miteinander verwandt sind. Uebrigens ist es nicht gerade leicht, sich über die verwandtschaftlichen Beziehungen der beiden Familien völlige Klarheit zu verschaffen, da sie nicht ohne Geschick die Aufmerksamkeit des forschenden Fremden absichtlich auf falsche Fährten zu lenken suchen. Sie sind verarmte Enkel einst wohlhabender Ahnen, denn so weit die Geschichte der Grafschaft Werdenfels, innerhalb deren Grenzen der Eibsee liegt, hinaufreicht, gedenkt sie auch dieser Ansiedelung. Schon im Jahre 1249 stellt der See ein Lehen der Schweiker von Mindelberg, eines im Gefolge der Welfen auftretenden Rittergeschlechtes, dar und wird von Schweiker dem Zweiten an den Bischof Conrad von Freising verkauft; im Jahre 1316 trug ihn ein ungenannter Ritter aus Garmisch zu Lehen. 1513 verlieh Bischof Philipp denselben dem Jacob Dänzl von Trapberg; von 1536 an war er längere Zeit hindurch in den Händen der Zwerger von Walchensee, die wenig löblich an ihm wirthschafteten.

Im siebenzehnten Jahrhundert saßen schon zwei Fischer am Eibsee, Alexander Schorn und Jacob Ostler, Abkömmlinge alter Geschlechter zu Garmisch, die schon siegelmäßig waren, bevor sich die ersten Zigeuner (im Jahre 1417) an den Grenzen von Deutschland gezeigt. Der Letztere ist der Stammvater der jetzigen Fischerfamilie; seiner Nachkommen einer, Ulrich Ostler, ward am 7. August 1752 von Raubmördern jämmerlich um’s Leben gebracht, während seine Leute in der Kirche zu Garmisch beim Gottesdienste sich befanden. In diesem an einem der Ahnen der Familie verübten Verbrechen ist wohl der Ursprung des Märchens von der Zigeunerabkunft der Fischer am Eibsee zu suchen. Denn damals war das Volk noch viel leichter, als in unsern Tagen geneigt, jedes in seinem Ursprunge dunkle Verbrechen auf Rechnung der meist unschuldigen Zigeuner zu setzen. Wie tief eingewurzelt dieses grausame Vorurtheil noch jetzt ist, beweist am besten die Thatsache, daß weder Aufklärung noch Liberalismus vor zwei Jahren die Zigeuner davor geschützt haben, der Gegenstand des allgemeinsten Hasses und der Hetzjagd der ganzen europäischen Polizei zu werden, weil auf einem Landgute bei Stettin ein Kind vermißt wurde. In diesem Falle haben nun freilich die Thatsachen die Unschuld der Zigeuner auf das Glänzendste dargethan, allein wer bürgt dafür, ob nicht schon im nächsten Jahre wieder die europäische Menschheit die Lust anwandeln wird, eine Preciosa zu suchen.

Durch die an seinen Ufern verübte Unthat kam zunächst der Eibsee und der ihn umgebende Wald, der noch jetzt den Namen des „Zigeunerwaldes“ führt, in Verruf. Im Laufe der Zeit wurden die Thatsachen vergessen, und der üble Leumund, in dem die Oertlichkeit stand, ging auf die Besitzer über, zumal da auch diese durch Verkehr mit Schmugglern, Wildschützen und anderem Gesindel vielfachen, mehr oder weniger berechtigten Anlaß zu übeln Nachreden geben mochten; daß die Inseln im Eibsee noch vor nicht zu langer Zeit von Schmugglern mit Vorliebe als Schlupfwinkel und Waarenniederlagen benutzt wurden, unterliegt keinem Zweifel.

Die Abkunft der Fischer am Eibsee von uralten Garmischer Geschlechtern ist also, wie wir gesehen, durch sichere Urkunden verbrieft und steht zweifellos fest. Nun wäre es zwar immerhin möglich, anzunehmen, daß eine illegitime Kreuzung zwischen der Fischerfamilie am Eibsee und vorbeiziehenden Zigeunern stattgefunden habe, wozu die Abgeschiedenheit des Platzes jedenfalls Gelegenheit in Hülle und Fülle geboten hätte, abgesehen davon, daß der alte Schmugglerweg von Ehrwald nach dem Eibsee auch von Zigeunern vielfach benutzt wurde, um unbehelligt über die Grenze in das wegen seiner polizeilichen Strenge unter den Zigeunern arg verrufene Baiern zu kommen, das sie wegen der schweren Bedrückungen, denen sie dort ausgesetzt sind, in ihrer Sprache Aschiwalo temm „das nichtswürdige Land“ nennen. Dagegen spricht aber, ganz abgesehen von der echt bairischen


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_489.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)